Ziele, Erfahrungen und Perspektiven

Vom Aufgeben – und anders Weitermachen
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Immer wieder einmal machen wir diese eine, sich wiederholende Erfahrung im Leben: Ziele, die wir uns stecken, sind nicht so einfach zu erreichen. Manchmal scheinen sie nur einen Wimpernschlag von der Realisation entfernt, manchmal ganz und gar utopisch.
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Vom Kirschkernweitspucken über Stationen individuellen Lebensglücks bis zur Verbesserung der Welt – Momente, in denen wir erkennen müssen, dass unsere Träume, Erwartungen und Hoffnungen ins Leere gehen, sind in allen Lebensbereichen zu finden. Im Privaten wie im Beruflichen. Innerhalb der Familie, im Freundeskreis und in Bezug auf die Welt um uns herum. Kleine Ziele – heute mal pünktlich sein – bis große Lebensentwürfe – ein Kind, ein Haus, ein Baum –: Manchmal scheinen die Wünsche größer als unsere Befähigung, sie umzusetzen. Wie gehen wir damit um?
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Wann ist der Moment gekommen, an dem wir uns der seelischen Gesundheit wegen von einem Wunsch, einem Ziel verabschieden sollten? Wann lohnt sich das Weitermachen? Darüber entscheiden nicht nur die Freuden oder Mühen des "Weges", der ja das Ziel sein soll, wie die buddhistische Leere sagt, sondern auch Lebenserfahrung und: die Perspektive.
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Oft genug verbinden wir mit einem Ziel ein bestimmtes Gefühl, das sich einstellen soll, wenn wir unser Ziel erreicht haben. Glück, Triumph, Seligkeit, Genugtuung, Befriedigung, Erleichterung, ein Zuwachs an Bedeutung, an Selbstwertgefühl, an Hoffnung. Wir sehnen uns eigentlich also nach einem emotionalen Zustand, weniger nach dem konkreten Gegenstand. Wenn wir unser Leben ein wenig aufmerksamer verfolgen, stellen wir fest: Manche Wünsche haben sich erfüllt, nicht aber unsere Seelen berührt. Oder der Rausch verflog rasch und gebar den Wunsch nach mehr. Gute Anzeichen dafür, das wir nur einer Schimäre hinterhergejagt sind, die bei Lichte besehen nicht die Fehlstelle füllen konnte. Buddhisten würden vielleicht sagen, wir hätten den Weg nicht geschätzt. Und recht hätten sie. Aber es gibt einen Grund, warum wir nicht die Gelassenheit von Mönchen besitzen. Ich meine, Grund dafür ist, dass wir mitunter vergessen, dass hinter einem Ziel ein emotionales Bedürfnis stecken kann. Eines, das wir auf andere Weise befriedigen könnten. Wenn wir uns dessen bewusst wären.
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Sollen wir unsere Ziele also alle aufgeben? Oder im Gegenteil, wie ein anderer Spruch besagt, einfach wieder aufstehen, wenn wir gefalllen sind? Worte, die zum Weitermachen animieren, kennen wir viele: Vom "Wer nicht wagt, der nicht gewinnt" bis hin zum "Wer kämpft, kann verlieren. Wer nicht kämpft, hat bereits verloren". Doch ebenso findet die ewige universelle Unerfülltheit in viel zitierten Sprüchen ihren Ausdruck: "The grass is always greener on the other side".
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Ob ein Ziel für uns Relevanz hat, muss also anders beantwortet werden. Einfach zu beurteilen sind praktische Ziele: Nur eine bestimmte Summe Geld auszugeben, weil sonst das Konto ins Minus rutscht, pünktlich im Büro zu sein, weil sonst eine Abmahnung droht. Aber diese Ziele sind in einem Außen verankert, das nicht unbedingt unser Inneres berührt. Da haben wir oft keine Wahl, können sie nicht einfach durch anderes ersetzten. Diese Ziele sind dem sozialen Miteinander geschuldet, und wir erfüllen sie mehr oder weniger erfolgreich.
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Anders ist es da schon, wenn wir uns wünschen, kräftiger, schöner, schlanker, aktiver, klüger oder fröhlicher zu sein. Und dies dann mit Äußerlichkeiten verbinden wie Krafttraining, Beauty-OPs, Diäten oder Volkshochschulkursen. Selten haben wir Glück, das Ziel ist erreicht und wir sind zufriedener. Häufig steht am Ende aller Aufwendungen und Anstrengung Frust. Weil wir unser Ziel erreicht haben, aber nicht glücklicher sind. Oder weil wir unser Ziel gar nicht erreicht haben. Und ich wage mal zu behaupten, wir haben es nicht erreicht, weil es eigentlich das falsche Ziel war. Die Schimäre. Der Scapegoat. Die Verschiebung. Wir wollten uns nur einfach besser mit uns fühlen. Doch statt dieses Ziel (!) über Bestätigung von außen durch Messbares (Gewicht, Muskelmasse, Kontostand) oder Reaktives (Bestätigung durch Freunde, Chef, die Welt) erreichen zu wollen, wäre der erfolgreichere Weg (!) wohl, uns selbst ein wenig mehr so zu mögen, wie wir sind: als liebenswertes Wesen.
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Bei all dem gibt es natürlich noch einen Aspekt, der ebenfalls eine Rolle spielt: Ehrgeiz. Er hilft, loszulegen. Hilft, durchzuhalten. Ehrgeiz führt viele an ihre Grenzen. Im Positiven kann Ehrgeiz zu Höchstleistungen führen (ich meine aber, Freude am Tun und Lockerheit in Bezug aufs Ergebnis sind mindestens ebenso wichtig). Aber manchmal verstellt dieser Antrieb auch den Blick auf die Realität. Lässt uns weitermachen, obwohl wir an unseren Grenzen angelangt sind oder sie bereits überschritten haben und doch das Ziel noch nicht erreicht ist.
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Häufig entwickelt sich eine gewisse Dynamik: Mit jedem Nicht-Erreichen eines Zieles wächst der Eifer, es doch noch zu schaffen. Was auch immer am Anfang als Wunsch stand. Das "Scheitern" durch schlussendliches "Gelingen" auszulöschen. Ich meine, eine große Portion Lebensglück liegt darin, sich selbst zu erlauben, ein Ziel nicht oder nur teilweise erreicht zu haben und/oder erreichen zu können. Sich zuzugestehen, dass einiges außerhalb der persönlichen Fähigkeiten liegt. Und sich zu konzentrieren auf die Dinge, die gelingen. Die Vergnügen bereiten. Sich oder anderen.
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Ehrgeiz ist auch nicht zu verwechseln mit Beharrlichkeit, die ja ebenfalls im Guten wie im Schlechten wirken kann – im Guten nennt es sich dann Verlässlichkeit, Konstanz oder Persistenz, im Schlechten Verbissenheit. Verbohrtheit. Und sicher lassen sich noch andere Begriffe finden. You get the picture.
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Manchmal also muss man einen Wunsch, eine Zielsetzung, eine Erwartung, eine Hoffnung aufgeben, um etwas anderes gewinnen zu können: ein gutes Gefühl mit sich selbst. Wäre das nicht ein super Ziel ;) ?

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