Yatagan
Im Dschungel mit Yatagan
vor 8 Jahren - 25.05.2016
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Duft zwischen Mentalität und subjektiver Weltwahrnehmung

Eine Wahrnehmung von Welt, die auf Kausalzusammenhänge reduziert bleibt, vielschichtige Erklärungsmuster ausblendet, monokausale Erzählungen multikausalen, komplexen Erklärungsclustern vorzieht, hat Konjunktur; nicht nur in der Politik, sondern auch in unserer "Erklärung" von Welt, wie sie in den Nachrichten, in gesellschaftlichen Diskussionen (von Diskurs wage ich nicht zu sprechen) und dem, was man gemeinhin Mentalität nennt, eingeschrieben und gespeichert ist.

Mentalitäten, die Wahrnehmung dessen, was über den rein subjektiven individuellen Rahmen des Selbst hinaus geht, prägen unser Denken und Handeln als prädisponierte Denk- und Handlungsmuster, reduzieren Komplexität und machen uns letztlich handlungsfähig. Die ihnen eingeschriebenen Diskurse, an denen wir teilhaben, artikulieren diese Sicht von Welt und machen deutlich, wie unterkomplex Wirklichkeit von uns häufig wahrgenommen wird. An sich ist nichts Schlimmes daran. Würden wir "Wirklichkeit" (was ist das?) ständig auch nur annähernd so komplex wahrnehmen, wie sie ist, wären wir im Alltag lahmgelegt. Dennoch schadet es nicht, sich von Zeit zu Zeit klarzumachen, dass das, was uns als "Wahrheiten" in Medien verkauft wird, häufig nur ein winziger Ausschnitt dessen ist, was Sachverhalte ausmacht. Woher kommen beispielsweise politisch motivierte Aggressionen? Vielleicht daher, dass unsere (i.e.S.) kapitalistische Weltsicht anderen Weltregionen die Rolle der Peripherie zuweist? Vielleicht daher, dass religiöse Diskurse zu unterschiedlichen Auffassungen von sog. Wahrheit führen? Vielleicht daher, dass in politischen Systemen der Faktor Macht bestimmend ist? All das und noch viel mehr. Und nichts davon allein ist wahr.

Nun zu Duft im Allgemeinen: Ich selbst beobachte mich permanent dabei, wie ich meine Wahrnehmung von Duft unsinnigerweise absolut setzen möchte, obwohl es doch kaum eine Wahrnehmung geben könnte, die subjektiver, weniger objektiv und intersubjektiv vermittelbar wäre als die Wahrnehmung eines Duftes. Schon das, was wir SEHEN, ist eine Konstruktion von Wirklichkeit, die in unserem Gehirn geschieht. Wer sagt mir, dass das, was ich als BLAU wahrnehme, auch das, ist, was Du als BLAU wahrnimmst? Wir sehen etwas, das wir gleich bezeichnen ("blau"), wissen aber nicht, was der andere sieht, hat er doch seit seiner Kindheit gelernt, das, was die Mutter als "blau" bezeichnetet, auch als blau zu bezeichnen. Kaum anzunehmen, dass es exakt das Gleiche ist. Und selbst wenn es so wäre: Was sieht ein Dritter, ein Vierter? Was also RIECHT ein Dritter und ein Zehnter? Was riecht der oder die andere? Wie kann ich dir und mir etwas über das vermitteln, was ich da gerade rieche und wie viel davon ist sozial konditioniert? Warum erscheint uns Oud zuweilen fäkal, während es anderen Menschen ein Gefühl von Wohlsein, Behütetsein und höherem Bewusstsein vermittelt? Warum liebt eine die Orientalen, während der andere die Hesperidien-Düfte mag? Was davon ist genetisch bedingt, anerzogen, selbst gewählte "Tradition", was davon dem Augenblick und seinen Begleiterscheinungen geschuldet?

Diese lange Rede ist Plädoyer nicht nur für Toleranz (das hatten wir schon allzu oft und führt scheinbar zu nichts), sonder für die echte Bereitschaft, sich auf die Weltsicht des anderen / der anderen im Text einzulassen und das für "wahr" gelten zu lassen, was dort beschrieben wird. Das heißt nicht, dass es um schlichtes, billiges Nachvollziehen von "Meinungen" geht, die kaum begründet, nicht umschrieben, nicht vermittelt wurden. Voraussetzung ist für mich der Versuch, etwas so zu begründen oder zu beschreiben, dass der andere nachvollziehen können muss, was ich dabei wahrnehme. Man könnte es auch ein "Umkreisen" dessen nennen, was da empfunden wird.

Unweigerlich landet man dabei auch noch einmal bei dem jüngst und oft auch wenig fruchtbar diskutierten Dissens zwischen Kommentaren einerseits, die scheinbar intersubjektive Beschreibungen, womöglich noch ein Namedropping der chemischen Inhaltsstoffen enthalten, was alles hilfreich sein kann und wohl auch ist - und Kommentaren andererseits, die eher Affektives transportieren, poetische, manchmal sogar lyrische Erklärungsmuster versuchen. Auch um diesen Dissens geht es mir nicht. Ich selbst bewege mich zwischen beiden Welten, was mich auch nur selten selbst zufrieden stellt.

Was ich meine und abschließend noch einmal zu beschreiben versuche, ist ein Bewusstsein über die Begrenztheit von intersubjektiver Weltwahrnehmung, ein Wissen um Konditionierungen, denen wir alle unterliegen, um Prädispositionen, aus denen wir nicht herauskommen, die aber umso neugieriger machen sollten, auf die Wahrnehmung des anderen, des DU (Vgl. Martin Bubers "im Du zum Ich werden"). Was also bleibt, wenn ich einen Kommentar lese, ist meine Wahrnehmung dessen, was der andere / die andere wahrgenommen hat. Und dann muss ich "stoppen": Ich darf, so denke ich, nicht gleichzeitig wieder fragen, ob das meiner Weltsicht, meinen Denk- und Handlungsmustern in Bezug auf Parfum und meiner Wahrnehmung in Bezug auf bestimmte Duftstoffe entspricht, sondern neugierig wahrnehmen, was DIESER aktuell besprochene Duft offenbar auslösen kann, nämlich bei einem anderen - und diesen dann in seiner Andersartigkeit akzeptieren.

Irgendwo in der Mitte zwischen dem, was ich da an scheinbaren Informationen aufnehme, und den Emotionen, die ein Duft transportieren kann und schließlich dem Etwas, was den ANDEREN (vielleicht den "großen Anderen" i.S.v. Lacan) offenbar an genau diesem Duft angesprochen hat, entsteht ein greifbares Wissen um seelische Übereinstimmung, kann auch mir einen Duft so spannend erscheinen lassen, dass ich plötzlich fast WEISS, dass ich ihn auch mögen würde - oder eben nicht.

Das ist der Wert von Parfumo. Darum lese und schreibe ich hier, so wenig erklärbar Düfte allemal sind.

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