Ronin
10.12.2011 - 07:56 Uhr
10
Flakon
5
Sillage
8
Haltbarkeit
10
Duft

So fremd, so fein, so wunderbar ...

Meine erste Begegnung mit diesem Duft war, als eine geschätzte Freundin den Duft probetrug: warm, pudrig (keinesfalls staubig oder seifig), leicht süß aber auch frisch. Der Duft schien die Haut zu streicheln. Dezent, aber deutlich wahrnehmbar. Fremd, schwer einzuordnen, aber überhaupt nicht anstrengend wie so viele Nischendüfte, die das Wort „Kunst“ herausbrüllen. Dieser Duft ist leise, er kann es sich leisten. Es ist das Selbstbewusstsein eines Duftes zu wissen, dass er so interessant ist, dass sich die Aufmerksamkeit auf ihn richtet, auch wenn er sie nicht einfordert. Dieser Duft ist ein Kompliment für eine Frau, die ihn trägt.
Im hervorragenden Buch „The Perfect Scent“ von Chandler Burr wird die Entstehungsgeschichte dieses Duftes skizziert. So wusste ich bereits, welche Komponenten verwendet wurden, als ich den Duft auf eigener Haut testete. Der Zauber dieses Parfüms – so viel sei vorweg gen ommen - erschließt sich mir trotzdem.
Heu (richtig gelesen, Heu) Absolue ist eine Hauptkomponente und fängt die Sonne ein. „L'Eau d'Hiver“ ist deswegen aber kein Sommerduft, ich empfinde eher, dass es ein Duft für kalte Tage ist; die Erinnerung an die Tage der Heuernte oder eine Nacht im Heu erwärmt mein Herz. Ohne zu wissen, dass dies Teil der Formulierung ist, hätte ich es nie erkannt und hätte über diesen unbekannten Akkord gerätselt. So ist er aber recht leicht zu erkennen. Anisaldehyd, dessen künstlich-anisartigen Geruch ich lange genug im Studium kennenlernen durfte, ich aber hier im Duft nur erahnen kann, gibt eine angenehm synthetische Note. Vermutlich ist es diese Note, die bei mir eine durchaus schöne Assoziation von Ölmalfarben auslöst. Iris und weißer Moschus werden ebenfalls als synthetische Duftstoffe zugesetzt, während Honig Absolue natürlichen Ursprungs ist. Zu diesem Grundgerüst gesellen sich nur noch ca. 15 andere Komponenten, und, ja, das ist typisch Ellena, mit wenigen Inhaltsstoffen einen so komplexen, fremden, schönen Duft zu kreieren.
Ich hoffe, mit diesem Auszug aus der Rezeptur keine romantischen Vorstellungen oder – schlimmer – den Zugang zu diesem Meisterwerk zu zerstören. Parfümerie kann Kunst sein (hier ist sie es) und ist nicht die Nachstellung der Natur. Auch wenn ich nicht alle seine Düfte mag und der Hype um seine Person mir manchmal schwer auf die Nerven geht: Jean-Claude Ellena beherrscht wie wenig andere Parfümeure unserer Zeit, aus konträren Duftstoffen etwas ganz neues zu schaffen.
Wenn ich etwas kritisieren wollte, könnte ich nur die Haltbarkeit erwähnen. Dies ist wohl ein Preis, der zu zahlen ist, wenn ein so eigener Duft niemals penetrant wirken soll.
Wie bereits erwähnt schmeichelt der Duft jeder Frau, die ihn trägt. Ich sehe ihn als Unisex-Duft mit leichtem Hang zum Femininen. Ob er etwas für mich ist, weiß ich noch nicht. Kaufen werde ich ihn trotzdem. Als Meilenstein der Parfümgeschichte. Ich mag keine prätentiösen Phrasen, hier kann ich nicht anders.

EDIT 26.04.2013: Dank der lieben Florblanca steht Louce und mir eine Vintageprobe "L'Origan" zur Verfügung. Welch Offenbarung! Und so werden große Bögen erkennbar: im Intertextualitätsthread hat PostMortem dargelegt, dass Cotys "L'Origan" einer der ersten (oder der erste) Duft war, in dem Anisaldehyd eingesetzt wurde, und dass dies von Guerlains "Après L'ondée" ein Jahr später aufgegriffen wurde. Jean-Claude Ellena berichtet, Analyse und Rekonzeptionierung von "Après L'ondée" habe ihn zu der Komposition von "L'Eau d'Hiver" inspiriert. Dabei hat er die Kombination Heliotropin, Anisaldehyd, Iris aufgegriffen und zeitgemäß interpretiert. "Zeitgemäß" bedeutet für Ellena ellenaesk (transparent, klar, körpernah) statt guerlainesk (eng verwoben, ineinander fließend, sillagestark). Heliotropin (wird auch Piperonal genannt) stand auch schon im ältesten Duft der drei, "L'Origan", Anisaldehyd zur Seite. Während sich dieser Heliotropin/Anisaldehyd-Akkord in "L'Eau d'Hiver" um Iris ergänzt stilbildend durch den ganzen Duft zieht, ist er bei "L'Origan" eine Facette, die für vielleicht eine Stunde aufblüht und dann in das kompakte, sehr sinnliche Herz eingebunden wird. Erstaunlich fand ich, wie sehr sich ein Duft aus dem Jahre 1905 "traut", synthetisch zu riechen. Die Probe ist ein EdT aus den 60ern, und Louce und ich werden Florblanca ewig dankbar sein, dass sie uns damit beschenkt hat. Heute trage ich selig lächelnd "L'Eau d'Hiver" und genieße den Sonnenschein.

P.S. "Après L'ondée", die "Zwischenstufe", kenne ich gar nicht. Schon so war die intertextuelle Linie, die Heliotropin/Anisaldehyd-Spur leicht zu erkennen.
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