03.05.2015 - 13:03 Uhr
Meggi
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Meggi
Sehr hilfreiche Rezension
32
Heimkehr
Noch ehe das Läuten der Glocke in voller Lautstärke erklang, hatte sie die kleine Luiza Benedita der alten Nachbarin in den Arm gedrückt und war in Richtung Wasser gelaufen. Im Gedränge dort war ein Neugeborenes fehl am Platze und es sollte doch ohnehin eine Überraschung sein! „Hoffentlich, hoffentlich…O Gott, lass ihn heil zurückkehren…“
Atemlos gelangte sie zum Hafen, wo sich bereits die Frauen aus den näher gelegenen Baracken versammelt hatten. Bislang war draußen wenig zu sehen, die Wache auf dem Turm hatte viel weitere Sicht, aber sie bildete sich ein, am flirrenden Horizont Takelage zu erblicken. Die Santa Felicidade war schon gestern eingetroffen; die Schiffe waren auf der Heimreise im Sturm getrennt worden, hatten die Angekommenen berichtet. Vom Schicksal ihres Mannes wussten sie natürlich nichts. Sie hatte nicht gefragt. Niemand nahm Notiz von dem, was einem einfachen Matrosen auf dem zweiten Schiff zustieß. Kam einer um, ging er zügig über Bord – zusammen mit einem Gewicht in seine Hängematte eingeschnürt und begleitet von einem kurzen Gebet. Sie konnte nur warten. Warten und hoffen. Das angstvolle Ausharren, bis an Deck die Gesichter zu erkennen waren, war immer das Schlimmste, diese letzte Stunde schien stets länger als all die Monate zuvor.
Zwar wussten alle Frauen um die Gefahren, besonders das unberechenbare Wetter. Wie auch nicht: Von kaum einer Fahrt kehrten die Männer vollzählig zurück. Sie selbst wusste freilich einiges mehr als die meisten. Nicht von ihrem Mann; der war, wenngleich ein braver und liebevoller Gatte, von eher schlichtem Gemüt. Ihr Wissen stammte von ihrem vor der Zeit verstorbenen Vater, der Navigator gewesen war und fürchterliche Dinge zu erzählen gewusst hatte: Vom schlechten Zustand vieler Schiffe, übler, als es auf den ersten Blick zu erkennen war – und die uralte Karavelle, auf der Manoel fuhr, bildete keine Ausnahme.
Vor allem aber hatte ihr Vater geschildert, welcher Irrsinn außerdem mit jeder Reise einherging: Bis zur Ankunft auf der gegenüberliegenden Seite von Meer oder gar Ozean wusste nicht einmal der Kapitän, wie weit man eigentlich vorangekommen war. Denn die Sonne verriet zwar den Breitengrad; ihn anhand ihres Standes mit dem Jakobsstab zu bestimmen, war inzwischen geübtes Verfahren. Doch weder Sonne, noch Mond, noch die Gestirne enthüllten den Längengrad.
Dieses Unwissen kostete ebenfalls unzählige Leben und Schiffe. Der spanische König Felipe III. hatte jüngst einen Preis ausgelobt für den, der das Längengradproblem löste. Seine Herolde hatten dies sogar hier in Sagres verkündet, fraglos, um daran zu erinnern, dass auch Portugal unter seiner Herrschaft stand. Die Gelehrten suchten am Himmel oder in der Mathematik Rat. Ihr Vater hatte hingegen keine Zweifel gehabt, dass allein eine präzise Uhr an Bord helfen würde. Eine Uhr, die die Mittagszeit des Heimathafens bewahrte. Damit könnte die Mittagszeit eines beliebigen anderen Ortes verglichen werden und aus der Abweichung wären leicht Entfernung und folglich der erreichte Längengrad zu berechnen. Allerdings ging kein dem Wellengang und der Meeresluft ausgesetzter Zeitmesser über Wochen oder womöglich Monate hinweg derart genau. „Vielleicht in zwölf Dutzend Jahren wird einer einen solchen bauen…“, hatte ihr Vater unmittelbar vor seinem Tod prophezeit.
Nun, die Santa Esperança hatte es gottlob auch ohne wieder einmal geschafft. Mittlerweile war das Schiff gut zu erkennen. Und da! Endlich ahnte sie sein Gesicht, immer deutlicher wurde es, bis sie schließlich dessen gewiss sein konnte. Er lächelte, schien ein oder zwei weitere Zähne verloren zu haben, doch er lebte und stand aufrecht. Als die Stelling auf den Kai prallte, war er einer der ersten, die das Schiff verließen.
Sobald er sie in die Arme schloss, bemerkte sie den Geruch von Schnaps. Das störte sie nicht, es würde verfliegen. Das war lediglich der großzügige Schluck, der stets kurz vor dem Festmachen als Belohnung ausgeschenkt wurde. Manoel war kein Säufer, dem Herrn sei’s gedankt! Er lieferte die Heuer zu Hause ab, statt sich - wie die meisten - in jedem Hafen tagelang zu betrinken. Dafür durfte sie dankbar sein, denn nicht nur diejenigen Seefahrer-Frauen, deren Männer auf See geblieben waren, mussten sich gelegentlich in nicht gottgefälliger Weise für ein paar Münzen oder gar bloß ein Stück Brot am Hafen verdingen, weil das Geld zum Leben nicht genügte.
Links und rechts liefen Männer auf Frauen und Kinder zu, mit dem schwankenden Gang jener, die nach langer Zeit auf See festen Boden betreten. Arbeiter eilten an Bord und begannen, die kostbare Ladung zu löschen, bang erwartet von den Händlern, die neben einer schützenden Gruppe von Soldaten warteten und die Ware sogleich prüften. Mitten durch die Menge hievten Träger die Säcke und Kisten. Allenthalben waberte der Duft von Muskat, Pfeffer und anderen Gewürzen umher. Daneben der Geruch edler Hölzer für die Haushalte der Reichen sowie das bittere Aroma von feinstem Tabak. Und die Aromen vermengten sich berauschend mit dem Glück der wieder Vereinten.
Als sie sich umdrehte, um gemeinsam mit ihrem Mann fortzugehen, fiel ihr Blick auf zwei Frauen, die abseits standen, weil zu ihnen keiner zurückkehrte. Sie weinten nicht. Noch nicht. Erstarrt standen sie da, sich gegenseitig stützend, wartend, ob vielleicht ein Nachzügler an Deck erschiene. Doch niemand würde mehr das Schiff verlassen. Mitleid mischte sich mit ihrer eigenen Freude, dass für sie und für diesmal alles gutgegangen war. Sie konnte jetzt nicht helfen, würde es später versuchen, obwohl sie selbst nur gerade genug zum Leben hatten. Aber zuvor würde ein Vater nun zum ersten Mal seine Tochter sehen.
Atemlos gelangte sie zum Hafen, wo sich bereits die Frauen aus den näher gelegenen Baracken versammelt hatten. Bislang war draußen wenig zu sehen, die Wache auf dem Turm hatte viel weitere Sicht, aber sie bildete sich ein, am flirrenden Horizont Takelage zu erblicken. Die Santa Felicidade war schon gestern eingetroffen; die Schiffe waren auf der Heimreise im Sturm getrennt worden, hatten die Angekommenen berichtet. Vom Schicksal ihres Mannes wussten sie natürlich nichts. Sie hatte nicht gefragt. Niemand nahm Notiz von dem, was einem einfachen Matrosen auf dem zweiten Schiff zustieß. Kam einer um, ging er zügig über Bord – zusammen mit einem Gewicht in seine Hängematte eingeschnürt und begleitet von einem kurzen Gebet. Sie konnte nur warten. Warten und hoffen. Das angstvolle Ausharren, bis an Deck die Gesichter zu erkennen waren, war immer das Schlimmste, diese letzte Stunde schien stets länger als all die Monate zuvor.
Zwar wussten alle Frauen um die Gefahren, besonders das unberechenbare Wetter. Wie auch nicht: Von kaum einer Fahrt kehrten die Männer vollzählig zurück. Sie selbst wusste freilich einiges mehr als die meisten. Nicht von ihrem Mann; der war, wenngleich ein braver und liebevoller Gatte, von eher schlichtem Gemüt. Ihr Wissen stammte von ihrem vor der Zeit verstorbenen Vater, der Navigator gewesen war und fürchterliche Dinge zu erzählen gewusst hatte: Vom schlechten Zustand vieler Schiffe, übler, als es auf den ersten Blick zu erkennen war – und die uralte Karavelle, auf der Manoel fuhr, bildete keine Ausnahme.
Vor allem aber hatte ihr Vater geschildert, welcher Irrsinn außerdem mit jeder Reise einherging: Bis zur Ankunft auf der gegenüberliegenden Seite von Meer oder gar Ozean wusste nicht einmal der Kapitän, wie weit man eigentlich vorangekommen war. Denn die Sonne verriet zwar den Breitengrad; ihn anhand ihres Standes mit dem Jakobsstab zu bestimmen, war inzwischen geübtes Verfahren. Doch weder Sonne, noch Mond, noch die Gestirne enthüllten den Längengrad.
Dieses Unwissen kostete ebenfalls unzählige Leben und Schiffe. Der spanische König Felipe III. hatte jüngst einen Preis ausgelobt für den, der das Längengradproblem löste. Seine Herolde hatten dies sogar hier in Sagres verkündet, fraglos, um daran zu erinnern, dass auch Portugal unter seiner Herrschaft stand. Die Gelehrten suchten am Himmel oder in der Mathematik Rat. Ihr Vater hatte hingegen keine Zweifel gehabt, dass allein eine präzise Uhr an Bord helfen würde. Eine Uhr, die die Mittagszeit des Heimathafens bewahrte. Damit könnte die Mittagszeit eines beliebigen anderen Ortes verglichen werden und aus der Abweichung wären leicht Entfernung und folglich der erreichte Längengrad zu berechnen. Allerdings ging kein dem Wellengang und der Meeresluft ausgesetzter Zeitmesser über Wochen oder womöglich Monate hinweg derart genau. „Vielleicht in zwölf Dutzend Jahren wird einer einen solchen bauen…“, hatte ihr Vater unmittelbar vor seinem Tod prophezeit.
Nun, die Santa Esperança hatte es gottlob auch ohne wieder einmal geschafft. Mittlerweile war das Schiff gut zu erkennen. Und da! Endlich ahnte sie sein Gesicht, immer deutlicher wurde es, bis sie schließlich dessen gewiss sein konnte. Er lächelte, schien ein oder zwei weitere Zähne verloren zu haben, doch er lebte und stand aufrecht. Als die Stelling auf den Kai prallte, war er einer der ersten, die das Schiff verließen.
Sobald er sie in die Arme schloss, bemerkte sie den Geruch von Schnaps. Das störte sie nicht, es würde verfliegen. Das war lediglich der großzügige Schluck, der stets kurz vor dem Festmachen als Belohnung ausgeschenkt wurde. Manoel war kein Säufer, dem Herrn sei’s gedankt! Er lieferte die Heuer zu Hause ab, statt sich - wie die meisten - in jedem Hafen tagelang zu betrinken. Dafür durfte sie dankbar sein, denn nicht nur diejenigen Seefahrer-Frauen, deren Männer auf See geblieben waren, mussten sich gelegentlich in nicht gottgefälliger Weise für ein paar Münzen oder gar bloß ein Stück Brot am Hafen verdingen, weil das Geld zum Leben nicht genügte.
Links und rechts liefen Männer auf Frauen und Kinder zu, mit dem schwankenden Gang jener, die nach langer Zeit auf See festen Boden betreten. Arbeiter eilten an Bord und begannen, die kostbare Ladung zu löschen, bang erwartet von den Händlern, die neben einer schützenden Gruppe von Soldaten warteten und die Ware sogleich prüften. Mitten durch die Menge hievten Träger die Säcke und Kisten. Allenthalben waberte der Duft von Muskat, Pfeffer und anderen Gewürzen umher. Daneben der Geruch edler Hölzer für die Haushalte der Reichen sowie das bittere Aroma von feinstem Tabak. Und die Aromen vermengten sich berauschend mit dem Glück der wieder Vereinten.
Als sie sich umdrehte, um gemeinsam mit ihrem Mann fortzugehen, fiel ihr Blick auf zwei Frauen, die abseits standen, weil zu ihnen keiner zurückkehrte. Sie weinten nicht. Noch nicht. Erstarrt standen sie da, sich gegenseitig stützend, wartend, ob vielleicht ein Nachzügler an Deck erschiene. Doch niemand würde mehr das Schiff verlassen. Mitleid mischte sich mit ihrer eigenen Freude, dass für sie und für diesmal alles gutgegangen war. Sie konnte jetzt nicht helfen, würde es später versuchen, obwohl sie selbst nur gerade genug zum Leben hatten. Aber zuvor würde ein Vater nun zum ersten Mal seine Tochter sehen.
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