22.09.2014 - 14:16 Uhr
Palonera
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Palonera
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jener Tag
Es war einer dieser Tage im Februar 1975, an denen der Frühling zum Greifen nahe schien.
Noch war es kalt, noch war der Himmel grau und schwer, noch streckten nur vereinzelt die ersten Schneeglöckchen ihr zerbrechliches Grün aus dem frösteligen Boden.
Ein kühler Wind blies mir die Zöpfe um die Ohren, als ich an der Hand meiner Mutter zerrte, vorfreudig über die eigenen Füße stolpernd, damit es schneller ginge, damit wir bald da wären, meine Eltern, meine Schwester und ich, dort, wo es laut war und bunt und lustig, wo die Karussells sich im Kreise drehten, bis mir schwindelig wurde, wo es krachte und klirrte und kreischte.
Seit Tagen schon war der Jahrmarkt in unserer Stadt, seit Tagen lag ich meinen Eltern in den Ohren, plärrte und nervte, bettelte und schmeichelte, bis es endlich so weit war, bis es hieß: "Zieht euch an, Mädels, wir gehen auf den Rummelplatz!"
Es war egal, daß meine Hände und Füße kalt waren, daß ich die blöde Mütze tragen mußte, die ich schon einmal heimlich in den Sack gestopft hatte, den meine Mutter zur Altkleidersammlung geben wollte.
Es war egal, daß ich heute zur Strafe in der Ecke hatte stehen müssen, weil ich Robert, dem Blöden, die Nase blutig geboxt hatte.
Geschah ihm recht, er hätte mich eben nicht "Pippi Langstrumpf" nennen dürfen.
Es war egal, daß ich nicht beim Gummitwist mitmachen durfte, daß es zum Mittagessen Erbsensuppe gegeben hatte und meine Schwester mehr Pudding essen durfte als ich.
Ganz egal – für mich zählte nur noch der Rummelplatz, in dessen Märchenwelt ich in diesem Augenblick eintauchte.
Laut war es, sehr laut.
Von überall her dröhnte Musik aus den Boxen, es schepperte und knirschte, an der Schießbude wurde jeder Kracher johlend kommentiert.
Ein langgezogenes Heulen drang aus der Geisterbahn, gefolgt von einem Rasseln und Kreischen – unwillkürlich faßte ich die Hand meiner Mutter fester, die nun am Zuckerwattestand stehenblieb.
Kurz darauf versperrte mir ein weißrosa Gebirge die Sicht, klebte sich an Nase und Wangen und Kinn und schien köstlicher als alles, was ich bis dahin gegessen hatte.
Wir fuhren Autoscooter und bumperten jedes Gefährt an, in meiner Nase der Geruch von Gummi, Metall und gebrannten Mandeln, an meiner Seite der tollste Papa der Welt.
Ich ritt im Kreis auf dem Einhorn, in einer Hand die Mähne, in der anderen einen dickrotglasierten Paradiesapfel, unbeschreiblich glücklich.
Irgendwann fing es an zu regnen, die Dämmerung setzte ein, wir gingen in der hereinbrechenden Dunkelheit nach Hause, um meinen Hals das Lebkuchenherz, in meinem Ohr das langsam leiser werdende Geschrei der rummelnden Menschen.
Meine Mutter wusch die Reste von Zuckerwatte und gebrannten Mandeln aus meinem Haar, dann brachte sie uns zu Bett.
Ich träumte von Schiffsschaukeln, riesigen Teddybären und puffendem Popcorn, von den Rufen der Budenbesitzer und dem Leierkastenmann.
Vier Monate später wachte ich auf.
Es war weiß um mich her, weiß und warm und sehr still.
Das Bett, in dem ich lag, war nicht meines.
Den schwarzen Mann im weißen Kittel, der sich über mich beugte, kannte ich nicht.
Seine Augen waren freundlich, sein Mund lächelte – dann bewegte er ihn, wie man ihn beim Sprechen bewegt, aber es kam nichts heraus.
Gar nichts.
Nicht aus seinem Mund, aus keinem anderen Mund, nie mehr wieder.
An diesem Tag wurde das Täubchen geboren.
"Déliria" trifft mich mitten ins Herz.
Kein Duft hat es bisher vermocht, die Gerüche und die Atmosphäre jenes so besonderen Tages heraufzubeschwören, die alten Bilder so lebendig werden zu lassen, als seien seither nicht fast vierzig Jahre vergangen.
Das Süße und das Kalte, das Harte wie das Weiche, Zartes und Grobes vereinigen sich mit Hell und Dunkel in einem Duft, von dem ich nicht sagen kann, ob ich ihn mag, ob ich ihn würde tragen wollen über den Test hinaus.
Ich bin hin und her gerissen, ein wenig zerrissen auch – und zugleich sehr dankbar für diese unerwartete Reise in die Vergangenheit.
PS: Franfan - danke!
Noch war es kalt, noch war der Himmel grau und schwer, noch streckten nur vereinzelt die ersten Schneeglöckchen ihr zerbrechliches Grün aus dem frösteligen Boden.
Ein kühler Wind blies mir die Zöpfe um die Ohren, als ich an der Hand meiner Mutter zerrte, vorfreudig über die eigenen Füße stolpernd, damit es schneller ginge, damit wir bald da wären, meine Eltern, meine Schwester und ich, dort, wo es laut war und bunt und lustig, wo die Karussells sich im Kreise drehten, bis mir schwindelig wurde, wo es krachte und klirrte und kreischte.
Seit Tagen schon war der Jahrmarkt in unserer Stadt, seit Tagen lag ich meinen Eltern in den Ohren, plärrte und nervte, bettelte und schmeichelte, bis es endlich so weit war, bis es hieß: "Zieht euch an, Mädels, wir gehen auf den Rummelplatz!"
Es war egal, daß meine Hände und Füße kalt waren, daß ich die blöde Mütze tragen mußte, die ich schon einmal heimlich in den Sack gestopft hatte, den meine Mutter zur Altkleidersammlung geben wollte.
Es war egal, daß ich heute zur Strafe in der Ecke hatte stehen müssen, weil ich Robert, dem Blöden, die Nase blutig geboxt hatte.
Geschah ihm recht, er hätte mich eben nicht "Pippi Langstrumpf" nennen dürfen.
Es war egal, daß ich nicht beim Gummitwist mitmachen durfte, daß es zum Mittagessen Erbsensuppe gegeben hatte und meine Schwester mehr Pudding essen durfte als ich.
Ganz egal – für mich zählte nur noch der Rummelplatz, in dessen Märchenwelt ich in diesem Augenblick eintauchte.
Laut war es, sehr laut.
Von überall her dröhnte Musik aus den Boxen, es schepperte und knirschte, an der Schießbude wurde jeder Kracher johlend kommentiert.
Ein langgezogenes Heulen drang aus der Geisterbahn, gefolgt von einem Rasseln und Kreischen – unwillkürlich faßte ich die Hand meiner Mutter fester, die nun am Zuckerwattestand stehenblieb.
Kurz darauf versperrte mir ein weißrosa Gebirge die Sicht, klebte sich an Nase und Wangen und Kinn und schien köstlicher als alles, was ich bis dahin gegessen hatte.
Wir fuhren Autoscooter und bumperten jedes Gefährt an, in meiner Nase der Geruch von Gummi, Metall und gebrannten Mandeln, an meiner Seite der tollste Papa der Welt.
Ich ritt im Kreis auf dem Einhorn, in einer Hand die Mähne, in der anderen einen dickrotglasierten Paradiesapfel, unbeschreiblich glücklich.
Irgendwann fing es an zu regnen, die Dämmerung setzte ein, wir gingen in der hereinbrechenden Dunkelheit nach Hause, um meinen Hals das Lebkuchenherz, in meinem Ohr das langsam leiser werdende Geschrei der rummelnden Menschen.
Meine Mutter wusch die Reste von Zuckerwatte und gebrannten Mandeln aus meinem Haar, dann brachte sie uns zu Bett.
Ich träumte von Schiffsschaukeln, riesigen Teddybären und puffendem Popcorn, von den Rufen der Budenbesitzer und dem Leierkastenmann.
Vier Monate später wachte ich auf.
Es war weiß um mich her, weiß und warm und sehr still.
Das Bett, in dem ich lag, war nicht meines.
Den schwarzen Mann im weißen Kittel, der sich über mich beugte, kannte ich nicht.
Seine Augen waren freundlich, sein Mund lächelte – dann bewegte er ihn, wie man ihn beim Sprechen bewegt, aber es kam nichts heraus.
Gar nichts.
Nicht aus seinem Mund, aus keinem anderen Mund, nie mehr wieder.
An diesem Tag wurde das Täubchen geboren.
"Déliria" trifft mich mitten ins Herz.
Kein Duft hat es bisher vermocht, die Gerüche und die Atmosphäre jenes so besonderen Tages heraufzubeschwören, die alten Bilder so lebendig werden zu lassen, als seien seither nicht fast vierzig Jahre vergangen.
Das Süße und das Kalte, das Harte wie das Weiche, Zartes und Grobes vereinigen sich mit Hell und Dunkel in einem Duft, von dem ich nicht sagen kann, ob ich ihn mag, ob ich ihn würde tragen wollen über den Test hinaus.
Ich bin hin und her gerissen, ein wenig zerrissen auch – und zugleich sehr dankbar für diese unerwartete Reise in die Vergangenheit.
PS: Franfan - danke!
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