Dieser Kommentar kann Spuren von Kitsch enthalten. Ein Abgesang.
Eines Tages im Jahre 2006 stand ich auf und ging in die Küche. Der Hutmacher wartete schon auf mich, guckte mich traurig an und sagte: „Ach Frau Lohse, du bist nicht meine Frau Lohse. Früher warst du mehr…mehrer…du hast dein Mehrsein verloren.“ Und ich spürte, er hatte Recht. Ich dachte vor dem Frühstück nicht mehr schon an sechs unmögliche Dinge.
In diesem Jahr traf ich Lolita. Ich weiß gar nicht mehr, wie wir zueinander fanden. Vermutlich war es beim Türkisen ihr hübsches Antlitz. Soll heißen, ich fand den Flakon wahrscheinlich einfach rattenscharf. Ich ließ mich besprühen (dem Wahnsinn nah, immer das volle Risiko Haut) und mir war, als hätte mir jemand mein Mehrsein wieder gegeben. Meine leere Stelle, die unaufhörlich schrie, war plötzlich ganz still.
Das hört sich dramatisch an. Und ist es auch. Jeder, der schon mal in einer Beziehung war, in der er selbst immer weniger wurde, die eigenen Gefühle nicht mehr spürend, weiß genau, wovon ich spreche.
Lolita und ich, wir wurden eins. Wir gehörten zusammen wie Katze und Karton, der eine nie ohne den anderen, da passte kein Blatt zwischen. Sie trug mich, bis ich sie trug. Ob Sommer oder Winter, morgens oder abends. Ich wollte nie wieder einen anderen Duft. Wir beide, wir machten einen großen Umbruch durch.
Wir lachten, wir weinten, wir suchten, wir fanden, wir feierten, wir diskutierten, wir verführten, wir litten. Und wir liebten. Wir waren immer zusammen. Wenn ich irgendwo einen Schal liegen ließ, wusste jeder sofort, das ist meiner. Der Duft war ich, ich war der Duft.
Auf keinen Duft wurde ich häufiger angesprochen, ich wurde verfolgt, verkomplimentet, ständig nach dem Parfum gefragt. Und erstaunlicherweise roch jeder was anderes in dem Duft.
Wer in Lolita lediglich Jahrmarkt gerochen hat, hat Lolitas Wesen nicht verstanden. Marketingkonzept und Duft sind hier wirklich mit Liebe zum Detail abgestimmt.
Lolita war ein sonniges Wesen, eine fröhliche, trockene, brausige Natur, die tiefe Sonne, sie war das Augenzwinkern, der Flirt auf der Straße, Verlockung ohne Versprechen, sie war Sommer, trockener Sand und gleichzeitig Oase, heißer Wind, klares Wasser, das Zimt-Salz auf der Haut, mit betörender Süße, die dich immer tiefer in ihren Bann zog. Sie war für mich das Wahre „La vie est belle“.
Als Lolita dann vom Markt genommen wurde, war mir, als würde man mir meinen rechten Arm abhacken. Auch heute gibt es noch Restflakons, aber: Das Problem mit Lolita, sie nimmt es dir übel, wenn du sie warten lässt. Sie wird vor Wut ganz gelb-bräunlich. Und ja, sie ändert dann auch ihr Wesen. Mit der Verfärbung fängt es an, sie verliert das Sonnige. Eben doch eine echte Sirene. Dann dauert es nicht mehr lang bis die Kopfnote nur noch sticht. Klar kann man sagen, Herz und Basis sind ja immer noch da und intakt, aber es ist nicht mehr meine Lolita. Dann hat sie ihr Mehrsein verloren. Dann ist sie tatsächlich nur noch Zuckerwatte und gebrannte Mandel.
Beim Lesen hier könnte man oft annehmen, die Kopfnote eines Duftes verpufft nach einer kurzen Zeit, aber das ist ja Quatsch. Der Kopf zieht sich bei mir tief ins Herz hinein, wenngleich auch schwächer, aber immer noch vorhanden. Und ohne den Kopf funktioniert Lolita nicht. Insofern habe ich Abstand genommen, Bestände aufzukaufen und Lolita fortan in jedem anderen Gesicht gesucht. Die Türkisen trieben mich immer weiter mit netter Beratung in die Gourmand Abteilung, wovon meine Sammlung Zeuge ist und ja, das war auch alles ganz nett, aber Lolita war eben nicht essbar. Deshalb trifft auch Tendre Madeleine, die gerne als Zwilling angegeben wird, nicht den Punkt. Punkt.
Mittlerweile habe ich Abschied genommen, die Trauer ist verklungen. Ich kann andere Düfte wieder annehmen und anerkennen, als eigenes Wesen. Vergleiche nicht mehr. Vielleicht steht mir nun der Weg offen, für eine neue wahre Duftliebe.
Ich bin dankbar für jede Minute mit Lolita und freue mich über die Romantikerin in Frau Lempicka, die diesen Duft für Träumer kreiert hat, die sich eben doch nicht zähmen lassen, deren Herz frei schlagen will, die nicht eingefangen werden wollen, in einem goldenen Käfig sitzend. Die wild, frech und wunderbar sind. Die Abenteuer erleben, ins Uferlose treiben, das Unmögliche möglich machen wollen und ihre Gefühle leben.
Vermutlich wäre ich Lolita heute entwachsen, vielleicht würde mich der originale Duft (nicht der gekippte, im Haus befindliche) in den Wahnsinn treiben, weil mir dann vielleicht einfällt, dass Lolita und ich auch viel ins Kissen geweint haben, weil wir nicht wussten, wie wir mit manchen Dingen umgehen sollten, vielleicht würde ich dann auch wieder an DICH denken. Vielleicht würde mir dann das Herz schwer werden. Ich weiß es nicht.
Danke Lolita, dass du mir mein Mehrsein wiedergegeben hast.
Der Hutmacher steht übrigens gerade neben mir und lacht aus vollem Herzen.
„Du bist es, du bist es wirklich. Meine Frau Lohse!“