Arran
Parfüm und Duft in der Literatur
vor 8 Jahren - 31.08.2016
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Parfum in der Literatur I: Das Olfaktorische als Unsagbarkeitstopos bei Rilke

Ein Leisetreter und stiller Leser jahrelang. Das war ich bis vor paar Tagen, als ich beschloss, dieser großartigen Duftcommunity beizuwohnen. Damit ein herzliches "Hallo" an alle Parfumos.

Zu diesem meinen ersten Beitrag hat mich eine Vielzahl von literarischen Kleinodien inspiriert. In einer kleinen Blogreihe möchte ich Werke verschiedener Genres vorstellen, in denen Parfum bzw. Duft im Allgemeinen eine tragende Rolle spielen. Vielleicht wird der ein oder andere Gefallen und Interesse daran finden. Den Beginn macht Rilke.

Der Duft

Wer bist du, Unbegreiflicher: du Geist,
wie weißt du mich von wo und wann zu finden,
der du das Innere (wie ein Erblinden)
so innig machst, daß es sich schließt und kreist.

Der Liebende, der eine an sich reißt,
hat sie nicht nah; nur du allein bist Nähe.
Wen hast du nicht durchtränkt als ob du jähe
die Farben seiner Augen seist.

Ach, wer Musik in einem Spiegel sähe,
der sähe dich und wüßte, wie du heißt.

(Rainer Maria Rilke, zw.1906 und 1926)

Unbegreiflichkeit

Der Duft wird quasi durch die Unmöglichkeit seiner Darstellbarkeit gerahmt: Wir haben die Anrede Unbegreiflicher zu Beginn, das Adynaton (d.h. unmögliches Beispiel) Musik sehen am Ende. Im Wissen um die Undarstellbarkeit unternimmt das riechende Ich trotzdem den Versuch der Beschreibung. Wir stellen uns folgendes Szenario vor: Wir testen ein Parfum, kennen weder Duftpyramide noch Namen oder Hersteller, sollen aber den Stoff vollständig begrifflich fassen, be-greifen. Wie sollen wir verfahren?

Das Gedicht gibt poetologisch eine Antwort: durch die Erweiterung der Sprache. Der "Riecher", die Vorahnung, das Gespür von etwas erzeugt Sprachlosigkeit und zwingt uns die alte Sprache zu dekonstruieren. Es passiert etwas Beeindruckendes, wozu uns ein unsichtbarer, in der Nase zu vernehmender Hauch treibt!

Der Duft ist ein mächtiger Geist, der uns an Ort und Stelle fesselt und unser Inneres innig macht, daß es sich schließt. Was bedeutet das konkret? Ich glaube, dass jeder Parfumo das Gemeinte intuitiv nachvollziehen kann. Wenn wir etwas Unbekanntes riechen, erblinden wir: nicht nur, weil wir den Geist nicht sehen, sondern ihn nicht beschreiben können, weswegen sich das Innere in einem unendlichen Kreislauf befindet, man schaukelt von einer Ahnung zur anderen, kann sie aber nicht unmittelbar (!) nach Außen tragen, sie verbalisieren. Form und Inhalt beziehen sich auf sich selbst - Inneres innig machen (Polyptoton, d.h. Wiederholung d. Wortwurzel) und kreisen.

Nähe

Es folgt kein direkter Vergleich und keine Metapher. Das riechende Ich beschreibt die gewaltsame Eroberung eines Liebenden. Es entwickelt sich ein extrem bildliches Szenario (das Ansichreißen eines Körpers), dem Nähe abgesprochen wird, obwohl es unserer Erfahrung widerspricht, um dann die Nähe zum Alleinstellungsmerkmal des Duftes zu erheben. Hier wird Erfahrung sprachlich und inhaltlich dekonstruiert und neu geordnet und zum Vermittler gemacht. Wenn zwischenmenschliche Intimität keine Nähe mehr ist, gewinnen wir ein enorm lebhaftes Bild von der Präsenz des Duftes. Wir versuchen gerade sein Wesen zu fassen.

Als ob du jähe (=plötzlich) die Farben seiner Augen seiest. Der Duft wird mit Augenfarbe verglichen: 1. das Auge gehört untrennbar zu uns 2. wir sehen es nicht 3. das Auge spiegelt motivisch die Seele, also dasjenige, was im Inneren geschlossen wurde, aber nicht nach Außen getragen werden kann. Die gerade beschriebene Nähe wird jetzt radikal auf die Spitze getrieben, wir entwickeln eine Vorstellung, hier in einem grandiosen Vergleich.

Unsabgbarkeit

Der Duft ist etwas, das sich unserer "gedeuteten Welt" entzieht. Die Komposition der Duftnoten (man beachte den Vergleich mit der Musik) erschafft ein Kunstwerk, das nur in einer Ahnung ansatzweise dechiffriert werden kann. Diese wiederum treibt uns zu Höherem, nämlich einer unfassbar neuen und bildreichen Sprache. Sie ist nur Versuch, kein Begreifen, schafft eine Vorstellung vom Wesen, wie uns der allgemein gehaltene Duft zeigen konnte.

Dieser Versuch, diese Spracherweiterung ist wie ich finde - das Bewundernswerteste und Wertvollste an den vielen Bewertungen der Parfumos.

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