Ein Zeuge

Neulich suchte ich in meinem Verpackungsfundus nach einer passenden Verpackung für einen Flakon und stolperte über einen kleinen Quader, etwa 14 cm auf 14 cm auf 20 cm, ziemlich mitgenommen, aber in perfekter Grösse.

Den kleinen Karton als einen Quader zu bezeichnen, stimmt eigentlich gar nicht . Durch die vielen Adressaufkleber und vielfachen Klebebandumklebungen waren die Ecken schon sehr abgerundet, als ob er sich an eine Kugelform annähern wollte. Die Pappe war durch die vielen braunen, weissen und transparenten Klebestreifen schon fast laminiert und wasserfest. Aber die Grösse war eben genau richtig.

Manchmal, wenn ich einen Karton wiederverwenden will, und er aussen unansehnlich ist, drehe ich ihn um und das innere nach aussen.

Hier musste ich dazu die verschiedenen Klebestreifen abziehen, bis die Pappe schon dünn und zart wurde, und die Adressaufkleber ablösen. Vorsichtig trug ich Schicht um Schicht ab, und begab mich auf die Reise, die auch der Karton hinter sich hatte, meine Zusenderin hatte den Karton von einer anderen bekommen , diese wiederum, bevor sie zur Senderin wurde, wieder von einer anderen, und jeder Adressaufkleber wurde zum Glied einer Kette, die sich kreuz und quer durch die Republik spann. Name um Name tauchte auf, zuerst im Absenderfeld, dann im Adressfeld, viele unbekannt, manche am Nick im Absenderfeld zumindest vom Namen vertraut, und je weiter ich in die Vergangenheit des Kartönchens eintauchte, desto grösser wurde meine Rührung und meine stille Bewunderung.

Wie oft war der kleine Karton mit Liebe gepackt worden, aufgegeben, erwartet, seine Ankunft freudig begrüsst, sein Öffnen genossen worden, um sich wieder auf die Reise zu begeben und dadurch die Vitalität einer Gemeinschaft unter Beweis zu stellen, die von diesen Versandwegen, wie von Schlagadern, am Leben gehalten wird.