Channi

Channi

Rezensionen
Channi vor 6 Jahren 18 7
3
Flakon
5
Sillage
6
Haltbarkeit
6
Duft
Das hässliche Entlein
Wenn ein Lebewesen auf die Welt kommt, dann weiß es schon einiges über diese Welt:
Keimende Samen wissen, dass die Wurzel Richtung Schwerkraft gehört und die Blätter Richtung Licht.
Neugeborene Säugetiere wissen, wo es die Milch gibt.
Frisch geschlüpfte Meeresschildkröten wissen, dass sie so schnell wie möglich ins Meer müssen und in welcher Richtung es liegt.

So ähnlich weiß auch eine Flasche was eine Flasche ist und was drin sein könnte.

Als ich zum ersten Mal aus meinem Karton genommen wurde, befand ich mich in einem hell eingerichteten Raum, in den Lichtstrahlen durch halb geschlossene Vorhänge fielen. Ich wurde auf einen Tisch vor einem Spiegel gestellt, zwischen lauter andere Flaschen. Neugierig blickte ich mich um. Was für wundervolle Flaschen das waren! Eine war bauchig auf einem schmalen Fuß, mit einer goldenen Flüssigkeit gefüllt, sie hatte einen glitzernden blauen Verschluss und ein goldenes Etikett. Die nächste war ganz schlicht viereckig, einen schwarzen zylindrischen Verschluss, weißes Etikett mit schwarzer Schrift - sehr edel. Dann war da eine würfelförmige schwarze Flasche mit verschnörkelter silberner Schrift. Es gab verzierte und schlichte, farbloses Glas, und rotes, blaues, grünes, manche hatten goldene Metall-Monturen, glitzernde Steine oder eine satinierte Oberfläche, und die Flüssigkeiten schimmerten in allen Farben des Regenbogens. Da wusste ich: Ich stehe zwischen lauter Parfum-Flaschen!
Ich fühlte mich großartig! Ich bin keine Einweg-Limonaden-Plastikflasche! Ich bin keine Ketchup-Flasche, die monatelang mit verschmierter Halsöffnung im Kühlschrank vor sich hin gammelt! Ich bin eine Parfum-Flasche! Ein langes, glanzvolles Leben!
Es gelang mir, mich selbst im Spiegel hinter dem Tisch zu betrachten. Erwartungsvoll musterte ich mich, doch je länger ich das tat um so kälter wurde mir… ich war viereckig, aus graubraunem Glas, bedruckt mit einem weißen Etikett, das etwas schief saß, schmucklose Schreibmaschinen-Schrift darauf, und der Deckel war weiß und hatte diese feinen Rillen, die zwar helfen, schwergängige Verschlüsse zu öffnen, in denen sich aber Öl und Schmutz so fies festsetzen.
Ich bin also sehr offensichtlich KEINE Parfumflasche. Enttäuschung machte sich in mir breit. Schmieröl? Reinigungsmittel? Vielleicht ein Medikament (Hoffnungsschimmer)?
Und dann begann das Drama. Eine elegante Frau kam in den Raum. Sie trug ein grau-blaues Etui-Kleid, weiße Sandaletten, das blonde Haar schulterlang, alles schlicht, aber sehr wirkungsvoll. „Aha“, dachte ich. „Sie holt sich Parfum.“ Zu meinem Entsetzen griff sie aber nicht nach einem meiner schönen Nachbarn, sondern nach mir! Sie zog meinen Deckel ab, darunter war ein Sprühknopf, und führte mich zu ihrem Hals… Das konnte nur ein Fehler sein! Irgendetwas Stinkendes würde da raus kommen, Insektengift oder Sprühöl… und dann würde sie mich wutenbrand auf den Boden pfeffern, und mein Leben wäre noch kürzer als das einer Einweg-Plastikflasche…
Aber dann breitete sich ein heller, freundlicher Blumenduft aus, weich und cremig, der perfekt zu ihrer kühlen Schönheit passte!
War ICH das? Das war ICH! Ich bin eine Parfumflasche! Die hässlichste Flasche auf dem Tisch, aber ich dufte so schön! Ich könnte schwören, die anderen Flaschen lächeln mir zu :-)
7 Antworten
Channi vor 9 Jahren 29 11
10
Flakon
7.5
Sillage
10
Haltbarkeit
8.5
Duft
Magische Tinte
Gestern war der absolute Tiefpunkt eines an Tiefpunkten reichen Projektes. Mein Buch sperrte sich mit allen Tricks und Gemeinheiten dagegen, endlich geschrieben zu werden. Es war ein wichtiges Buch. Die Zeit drängte.
Ich hatte mich inzwischen monatelang in das Thema eingegraben, gelesen, recherchiert, mit meinem Verleger Nächte durchdiskutiert. Mein Arbeitszimmer war überwuchert von Bücherstapeln, Ordnern mit Kopien, Speicherkarten von den Interviews, Kabeln, leeren Kaffeetassen, in der Mitte ein PC und ein Laptop, dazu Krümel und Pizza-Kartons. Seit Wochen hatte ich mich hier eingegraben und dennoch - kein Silberstreifen am Horizont.

Und jetzt saß ich in meinem Auto vor der Pforte eines Klosters. Ein anderer Autor meines Verlegers hatte hier Ruhe und Sammlung gefunden und in wenigen Tagen seine Schreibblockade überwunden - für mich war es der berühmte Griff nach dem Strohhalm.
Ich solle so wenig wie möglich mitbringen, hatte man mir gesagt, also hatte ich die notwendigste Kleidung dabei und den Laptop mit den wichtigsten Quellen. Eine Tasche, mehr nicht, zumindest das fühlte sich gut an.

Ich fuhr durch die Pforte, stellte den Wagen rechts unter alten Kastanien im Innenhof ab. Vor mir erhob sich eine gotische Kirche aus hellem Sandstein, daneben die barocke Abtei und daran anschließend Wirtschaftsgebäude mit Elementen aus tausend Jahren Baugeschichte. Ich schritt den mit niedrigen Buchsbaum-Hecken gesäumten Kiesweg Richtung Abtei, Arbeit, Schweigen…

Nach einer spartanischen, aber erholsame Nacht und einem erschreckend gesunden Frühstück holte mich ein freundlicher, aber wortkarger Mönch ab - ich solle mitkommen, ohne Laptop.
Am Ende eines schmalen, kahlen Ganges traten wir durch eine enge Tür in eine prunkvolle Bibliothek.

Mein Begleiter wies mich an hier zu warten, so hatte ich Zeit mich umzusehen. Marmorsäulen mit goldenen Kapitellen trugen ein hohes Gewölbe. Zwischen den Säulen wechselten sich mächtige Bücherregale und schmale Fenster ab. Auf vier, fünf Metern Höhe gab es einen Galeriegang, der von reich verzierten Holzsäulen getragen wurde und der Zugang zum nächste Stockwerk voller Regale ermöglichte. Darüber waren die Wände mit Fresken verziert, und das Gewölbe war ausgemalt: Gruppen von Menschen und Engeln mit bauschenden Gewändern zwischen Wolken und gemalter Architektur. Es war ein sehr berühmtes Fresco, ein Meisterwerk des Barocks, aber mich zogen mehr die Bücher an. Nichts hier schien jünger zu sein als zwei-, dreihundert Jahre, viele Namen und Titel waren mir vertraut, nicht weil ich sie gelesen hatte - welcher Physiker liest heute Newton im Original - sondern weil sie die großen Denker und Forscher waren, auf die sich Wissenschaftler seit Jahrhunderten bezogen.
Auf einmal fühlte ich mich winzig.
Ein anderer Mönch mit alterlosem Gesicht und klugen Augen deutete mir schweigend an ihm zu folgen. Wir gingen durch eine große, schwere Holztür an der Stirnseite des Saales. Dahinter folgte ein lichter Gang mit gotischen Fenstern und Kreuzgewölbe, der in den Lesesaal führte mit prachtvollen gotischen Fenstern. Die gegenüberliegende Seite war ähnlich hoch wie der erste Saal mit Büchern bedeckt, hier aber mit zwei, dafür weniger hohen Galerien, so dass man die Bücher ohne Leiter erreichen konnte. In der Mitte des Raumes standen Tische in mehreren Reihen, sicher mehr als die Hälfte besetzt - Leser, tief in ihr Buch versunken.
Mein Begleiter wies mir einen Tisch an und brachte mir dann ein altes, schlicht in Leder gebundenes Buch ohne Titel. Als ich es aufschlug stockte mir der Atem - es war handgeschrieben - der Briefwechsel zwischen Newton, Sir Isaak Newton, der Inbegriff des klassischen Physikers, und Robert Hooke, der sich unter Anderem bei der Weiterentwicklung des Mikroskops und Begründung der Zellbiologie verdient gemacht hat. Allerdings handelte es sich „lediglich“ um eine sehr alte Abschrift, nicht die Originale, dafür aber nicht in Privatgekrakel sondern in meisterlich schöner englischer Schreibschrift, also nach kurzer Eingewöhnung leicht lesbar. Ich versank in den Briefen, wie alle um mich herum schon versunken waren, und las mich in den Gedankenaustausch dieser zwei großen Forscher. An einer berühmten Passage von Newton blieb ich hängen: “If I have seen further it is by standing on the shoulders of giants.” also „Wenn ich weiter geblickt habe, so deshalb, weil ich auf den Schultern von Riesen stehe.“
Ich blickte aus dem Fenster, hinter den alten, unregelmäßigen und nicht ganz klaren Scheiben konnte man den barocken Kräutergarten erahnen. Mein Begleiter stand plötzlich wieder neben mir, hieß mich das Buch liegen lassen und ihm folgen.
Aus dem Lesesaal führte er mich durch einen niedrigen Gang zu einer engen, ausgetretenen Sandstein-Wendeltreppe. Oben folgte ein weiterer schlichter Gang, von dem aus er mir eine sehr alte, sehr rohe Holztür öffnete. Der kleine Raum dahinter hatte ein Fenster mit grünlichen Butzenscheiben, an der mit Nadelholz grob vertäfelten Wand stand ein solider, dunkler, sichtlich alter Tisch und ein schwerer, mit Schnitzereien verzierter Stuhl und in der Ecke ein grüner Kachelofen. Auf dem Tisch einige Bögen schweres Büttenpapier, ein würfelförmiges Tintenfass und ein Gänsekiel.
„Schreiben Sie“, lächelte der Mönch, und ließ mich stehen.

Hin- und hergerissen zwischen Ungehaltensein - was soll ich hier ohne meine Unterlagen? - und inspiriertem Schaffensdrang setzte ich mich an den Tisch. Er trug die Spuren von wohl Jahrhunderten der Nutzung, teils abgenutzt, teils poliert. Was nun schreiben? Tinte und Feder locken, das teure Büttenpapier verbietet jedoch belangloses Geschreibsel. Ich könnte den Titel des Buches aufschreiben, wenigstens das.

Als ich das Tintenfass öffnete stiegen Schlieren daraus empor. Der Geruch der Tinte breitete sich aus und traf mich mit fast körperlicher Energie. Für einen Augenblick schien mir schwindelig zu werden, dann war alles wieder klar, das Licht hatte sich verändert, nicht mehr warm und etwas trüb, sondern klar wie eine Lichtung an einem Frühlingsmorgen.
Ich tauchte die Feder ein und setzte sie auf das Papier. Dabei fiel mir eine bessere Formulierung für den Titel ein. Die ungewohnte Feder schob sich noch etwas sperrig über das Papier, sie verlangte Kontrolle. Der Titel gefiel mir. Warum schrieb ich dieses Buch? Ich erklärte es in ein paar schlichten, klaren Sätzen. Die Tinte war überraschenderweise blass-grau, doch die Feder glitt jetzt besser, auch wenn die Unterbrechungen für das erneute Eintauchen noch ungewohnt waren. Dann setzte ich meine zentralen Gedanken und Argumentationsketten darunter. Ganz am Rande nahm ich wahr, dass mir jemand einen Krug Wasser und ein Glas brachte. Ich schrieb weiter, die Gliederung des Buches. Dann sammelte ich die wichtigsten Gedanken nochmals - so könnte das Schlusswort aussehen.

Inzwischen war die Tinte tiefschwarz geworden.

Als ich aufblickte hatte die Sonne schon den Zenit überschritten und wärmte die Schreibstube. Der Mönch stand neben mir und empfahl mir einen Spaziergang im Klostergarten, die Blätter würde er in meine Kammer bringen. Ich folgte ihm hinaus, ging zwischen Blumen und Kräutern zu einem uralten Buchsbaum, legte mich daneben ins weiche Gras und genoss die Wärme der Sonne. Das Buch war fast fertig. Ich musste nur noch meine Quellen und Materialien einarbeiten. Der Geruch der seltsamen Tinte hing noch leicht um mich herum…
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