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vor 5 Jahren - 20.01.2019
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Der schönste Flakon aller Zeiten?

In letzter Zeit habe ich mir viele Gedanken zu Parfüm und Flakons gemacht. Unser Wunsch als Parfümenthusiasten ist es natürlich immer, den Inhalt unabhängig vom Flakon zu bewerten und den Einfluss des Äußeren auf unser Urteil gering zu halten. Die Abfüllungen, mit denen wir täglich hantieren, sind dabei eine große Hilfe, um möglichst objektiv zu bleiben. Ist nach vielen Probeläufen schließlich die Liebe zu einem Duft entfacht, darf er meiner Ansicht nach gerne ansprechend verpackt sein. Als jemand, der Stunden über Lampen und Geschirr sinnieren kann, freut mich ein Parfüm ganz besonders, das auch auf der Ablage im Bad eine gute Figur macht und nicht nur auf der Haut. Mein absoluter Gewinner ist in dieser Hinsicht das Vol de Nuit Extrait von Guerlain. Früher war das Eau de Toilette im selben Flakon zu haben, momentan wird es jedoch im Bienenflakon abgefüllt. Im Folgenden versuche ich zu ergründen, warum gerade dieser Extrait-Flakon so unwahrscheinlich anziehend wirkt.

Stilistisch ist Vol de Nuit (1933) ein wunderbares Beispiel für das Art Deco. Dieses folgte in den 1920er und 30er Jahren auf den Jugendstil, der ungefähr von 1890 bis zum ersten Weltkrieg dauerte. Der Jugendstil als Gegenbewegung zum historistischen Kopierwahn der frühen Industriegesellschaft legte Wert auf handwerkliche Qualität und fand seine Inspiration in der Natur. Deshalb drückte er sich in organischen, fließenden Formen aus und nutzte Motive aus der Pflanzen- und Tierwelt wie Blätterranken und Libellen. Mit dem Wunsch nach Reduktion nach dem übersättigten 19. Jahrhundert etablierte sich parallel dazu die Moderne mit geometrischen Formen und völligem Verzicht auf Schmuck und Symbolik, man denke zum Beispiel an das geradlinige und kühle Bauhaus, das daraus resultierte.

Art Deco ist innerhalb dieser reduzierten Moderne einzuordnen. Es nutzt geometrische Formen, dynamische, gerade Linien, Strahlen und Symmetrie. Ornamente sind ihm nicht fremd, doch Schmuck taucht seltener auf als noch im Jugendstil. Gestalterisch bezieht sich das Art Deco oft auf Geschwindigkeit und Dynamik von modernen Transportmitteln wie Zügen, Rennwägen, Dampfern und eben Flugzeugen.



Und hier kommt Vol de Nuit ins Spiel. Sein quadratischer Flakon besteht aus grünem Glas und passt damit perfekt zu seinem Chypre-artigen Inhalt. Über dessen Entstehung sind zwei Geschichten im Umlauf: Guerlain soll ihn entweder dem gleichnamigen Roman von Saint-Exupéry gewidmet oder ihn für die Air France als Merchandising-Artikel kreiert haben.

Bildergebnis für vol de nuit extrait

Zu beiden Varianten passt die Gestaltung der Vorder- und Rückseite des Flakons, in die reliefartig strahlenförmige Linien eingelassen sind. Diese lassen sofort an den Propeller eines Flugzeuges denken, was auf den Namen „Nachtflug“ Bezug nimmt. Ich bin froh, dass es so war, denn es hätte auch anders kommen können. Der Ausspruch „Form folgt Funktion“ wurde fast schon verherrlicht und praktische Funktion ist für die Rotorblätter im Fläschchen nicht gegeben – es handelt sich um puren Schmuck und die Form folgt hier lediglich der Bezeichnung. Menschen haben aber ein gewisses Bedürfnis nach Schmuck und die gewaltige Anziehung des Flakons rührt zum großen Teil von eben jenem symbolischen Muster. Es sorgt durch die Verbindung von Titel und Ornament für ein unbewusstes Aha-Erlebnis und gibt dem Ganzen eine starke Dynamik.

Aufgesetzt in rundlaufender Schrift ist auf der Frontseite der Name des Dufts in goldenen Metalllettern, eingefasst in zwei goldene Kreise mit einer erhabenen Halbkugel in der Mitte. Dieses Gebilde ist nicht, wie man erwarten würde, zentriert angebracht. Vielmehr prangt es im unteren Teil des Flakons, sodass sich das optische Gewicht dorthin verlagert. Durch die überraschende Anbringung des Schriftzugs unterhalb der Mitte entsteht Spannung, was wiederum zur Schönheit des Flakons beiträgt. Die quadratische Fläche des Flakons wird durch den Schriftzug in ein Drittel unten und zwei Drittel oben dividiert, was grob einer Aufteilung nach der Fibonacci-Sequenz entspricht, die unser Auge als besonders harmonisch empfindet.

Der Deckel schließlich ist ein klassischer Glasstopfen, mit dem man den Duft in Divenmanier auf die anziehendsten Körperteile tupft. Dadurch entsteht das Gefühl, etwas Besonderes und vor allem Hochwertiges in den Händen zu halten. Glücklicherweise schließt der Deckel perfekt ab, sodass kein Duft verdampft. Eingefasst ist der Deckel oben und seitlich mit einer goldenen Metallplatte, in die der Name des Hauses Guerlain in Majuskeln eingestanzt ist. Dass die Schriftart eine andere als die gewohnte Logoschrift ist, hat vielleicht technische Gründe.

Vol de Nuit Extrait besitzt für mich persönlich den schönsten Flakon, der mir jemals begegnet ist. Er ist ein perfektes Zeugnis seiner Zeit und heute so modern wie eh und je. Bitte, Guerlain, ersetzt ihn niemals durch das Jicky-Fläschchen.

Was ist für euch der schönste Flakon?

Die übrigen Beiträge der Reihe:

L'Heure Bleue/Mitsouko/La Petite Robe Noire von Guerlain

Midnight in Paris von Van Cleef & Arpels

Diva von Ungaro

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