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vor 6 Jahren - 07.01.2018
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Berliner Duftspaziergänge. Teil 1: Mekkas im Mommsenkiez

Das olfaktorisch spannendste Pflaster Berlins liegt in seinem klassischen Westen. Hier soll unser erster Duftspaziergang stattfinden.

Wie man weiß, setzt sich die deutsche Hauptstadt aus unzähligen Kiezen zusammen: Nachbarschaften von je ganz eigenem Gepräge. Manche sind unter fester Firma berühmt oder berüchtigt, etwa der Bergmannkiez in Kreuzberg oder der Rollbergkiez in Neukölln. Andere sind unbekannter und haben weder eindeutige Grenzen noch einen anerkannten Namen.

Fokussieren wir den Blick auf ein kleines Viertel, das ich „Mommsenkiez“ nennen will. Seine südliche Grenze bildet der Kurfürstendamm, nach zwischenzeitlichem Taumeln wieder aufgestanden und erneut zur mondän-metropolitanen Flaniermeile gehäutet. Nach Norden hin wird er abgeschlossen durch die Kantstraße, die mit ihrem Durchgangsverkehr, ihren Chinaläden und arabischen Billigfriseuren ihrer feinen südlichen Schwester so wenig ähnelt. Ostwärts wollen wir die Grenze etwa an der Knesebeckstraße ziehen, denn das gehobene Ausgehviertel rund um das Theater des Westens gehört für mich schon nicht mehr dazu. Westlich franst der Mommsenkiez diffus aus. Wie sollte es auch anders sein, wo doch seine natürlichen Grenzen selbst ausfransen: Die Lewishamstraße ist keine Straße, sondern ein trauriger Zustand, und der Stuttgarter Platz war vermutlich nie ein Platz; heute ist er ein amorphes Gebilde, an dem Winkel mit Püffen und Import-Export-Hehlerware-Läden irgendwie in eine Zone mit gediegenen Lifestyle-Cafés verschachtelt sind.

Die Mommsenstraße verläuft von Ost nach West mittig durch den Kiez. Sie ist, wenn man sich das Ganze um 90 Grad gedreht vorstellt, der Dönerspieß, auf den der Mommsenkiez aufgesetzt ist, mit dem S-Bahnhof Charlottenburg als Basis und dem Savignyplatz Dönerspitze.

Obwohl die TU an der Hardenbergstraße nicht allzu weit ist, ist der Mommsenkiez nicht gerade studentisch geprägt. Und trotz der weitgehend intakten „besseren“ Gründerzeitbebauung und der steigenden Mieten ist er auch keine Gegend für die richtig Reichen. Er ist nicht ausgesprochen konservativ wie Zehlendorf, aber auch nicht alternativ wie Friedrichshain. Viele Altberliner wohnen hier. Mittleres und gehobenes Bürgertum bildet das Rückgrat der Einwohnerschaft, Rechtsanwälte und Ärzte, Beamte, und einige Exzentriker und Originale. Wer den richtigen Blick dafür hat, sieht recht oft Schauspieler. Und Politiker auch. Claudia Roth von den Grünen traf ich da mindestens einmal an der Theke eines Biosupermarkts, und die Wohnung Guido Westerwelles mitten im Kiez war bis zu dessen frühem Tod am „G.W.“-Klingelschild und an den Polizisten vor der Tür zu erkennen.

Richtige Sehenswürdigkeiten für Touristen gibt es nicht. Richtig tolle Plätze auch nicht. Der vor nicht allzu vielen Jahren angelegte Walter-Benjamin-Platz mit seinen Wasserspielen und Arkaden wirkt zwar irgendwie mediterran, aber auch zu monumental (und damit zu mussolininesk), gleichzeitig auch in seiner erkennbaren Geschossflächenzahlfixierung zu kapitalistisch-seelenlos. Wenn Touristen kommen, dann nicht wegen der Kultur, sondern wegen der Gastronomie. Das „Klo“ liegt hier, diese Ur-Westberliner Touristenfalle, das liebevoll angestaubte Ostpreußen-Restaurant „Marjellchen“, der wirklich gute Grieche „Samos“, das inzwischen etliche Filialen aufweisende „Mommseneck / Haus der 100 Biere“ und die alteingesessene „Leibnizklause“. Und noch einiges mehr - seit Neuerem auch Bereicherungen wie die „Japanese Bakery“. Dabei ist der Mommsenkiez gar kein ausgemachtes Kneipenviertel, eher ein Wohngebiet. Die Einheimischen (und Kenner von außen) schätzen an ihm weniger die Bars und Restaurants als die kleinen, oft unscheinbaren, meist familiengeführten Ladengeschäfte und Dienstleister: Die Schneider, Hutgeschäfte, Frisöre, Fußpflegerinnen, Masseure, Reinigungen, Schuhmacher, Bilderrahmengeschäfte, Antiquitätenläden, Porzellanreparateure und dergleichen. Solche kommerziellen Kleinode findet man hier und in den unmittelbar angrenzenden Kiezen zuhauf, in erstklassiger Qualität und zu absolut moderaten Preisen. Es ist eine Gegend, die Handwerker, Kaufleute und Freiberufler anzuziehen scheint, denen es Spaß macht, ihren Job sehr gut zu machen und davon ordentlich leben zu können. Auf Gedöns wie Werbung (noch gar im Internet!) oder Getöne wie „Manufaktur“ legt man offenbar weniger Wert.

Dies ist das Biotop, in dem drei der ungewöhnlichsten Berliner Duftgeschäfte gedeihen. Sie sind sehr unterschiedlich, und sich doch auch wieder ähnlich.

Beginnen wir am südlichen Rand des Kiezes: Nur einen Steinwurf vom Ku’damm, und doch von dessen Glitzerwelt schon weit entfernt, liegt zwischen Olivaer Platz und Walter-Benjamin-Platz in der Leibnizstraße 47 die Mekkanische Rose.

Wir sehen ein klassisches Ladengeschäft mit zwei hübschen Schaufenstern und unauffälliger Werbung. Wir treten ein und befinden uns in einem nicht allzu großen, aber aufgrund seiner klaren, nur leicht orientalisierenden Ausstattung dennoch geräumig und übersichtlich wirkenden Verkaufsraum. Stehen wir am Tresen mit der Kasse, können wir in die hinteren Räume lugen und dort allerlei Flaschen und Apparaturen erspähen; ob die Düfte tatsächlich hier vor Ort komponiert werden oder sich hier nur ein Misch- und Abfülllaboratorium befindet, weiß ich allerdings nicht.

Nach gemeinsamen Reisen der Gebrüder Nissen durch den Orient in den 70-er und 80-er Jahren eröffneten diese, inspiriert von der arabisch-orientalischen Kultur im Allgemeinen und Parfümtradition im Besonderen, hier vor 35 Jahren die „Mekkanische Rose“. Nach dem Tode seines Bruders führt Rolf Nissen die „Mekkanische Rose“ inzwischen als Einzelunternehmen. Verkauft werden ausschließlich eigene Duftkreationen. Wie der Name des Geschäfts und seine Ursprungsgeschichte bereits vermuten lassen, steht, was den Charakter der Düfte, ihre oft schweren, harzigen, rauchigen, würzigen und süßen Ingredienzen, angeht, aber auch was deren Herkunft und die Namensgebung der einzelnen Düfte betrifft, der Orient im Vordergrund. Doch ist Nissen hier durchaus nicht dogmatisch, es gilt hier kein „orientalisches Reinheitsgebot“: Auch europäische und amerikanische Zutaten werden verarbeitet; auch leichte, zitrische Düfte finden ihren Platz. Umso wichtiger ist dem Patron die hundertprozentige Natürlichkeit seiner Duftwässer: Ausschließlich natürliche Essenzen finden Verwendung, jede Art von Chemie wird streng abgelehnt.

Die „Mekkanische Rose“ ist kein reines klassisches Parfümgeschäft: Neben den Eau de Parfums (Damen-, Herren- und Unisexdüfte werden offeriert) und Rasierwässern wird auch individualisiertes Parfüm, sozusagen eine „Duft-Maßschneiderei“ angeboten, ferner ätherische Öle, Duftkerzen, Massageölen und dergleichen.

Ich habe noch nicht viele Düfte der „Mekkanischen Rose“ getestet, aber die, die ich probiert habe, haben mir gefallen, einige exzellent: Ansar, Kashmir und Khalil haben Wucht, Größe und Besonderheit. Sie machen Geschmack auf mehr. Dieser besondere Laden und seine ebenso ungewöhnlichen Düfte verdienen unbedingt mehr Beachtung, auch hier auf Parfumo, wo sich bisher nur wenige Kommentare und Statements finden. Wer einsteigen will, tut es am besten vor Ort in Berlin. Der Internetauftritt ist nicht nur altbacken, sondern auch sehr unvollständig.

www.mekkanischerose.de

Wenn wir noch schnell einen rabattierten Mainstreamduft mitnehmen wollen, können wir nach dem Besuch in der Mekkanischen Rose noch schnell in der Mommsenkiez-Filiale der Billigparfümeriekette „Diamant“ hereinschneien, die sich direkt nebenan, auf derselben Straßenseite, in der Leibnizstraße 46 befindet. Danach wenden wir uns nordwärts und gehen weiter bis zur Kantstraße, der Nordgrenze des Kiezes. Diese biegen wir, ohne sie zu überqueren, nach links ab. Etwa zehn Gehminuten, nachdem wir aus Mekka aufgebrochen sind, erreichen wir, auf der südlichen Seite der Kantstraße das Epizentrum der Berliner Duftwelt: „Harry Lehmann“, auch bekannt als „Parfüm Individual Harry Lehmann“oder „Harry Lehmann – Parfüm nach Gewicht“, Kantstraße 106.

Anders als über unsere erste Station ist über Harry Lehmann auf Parfumo schon viel Gutes geschrieben worden, und das völlig zu Recht. Harry Lehmann hat mit Nissens „Rose“ einiges gemein, und einiges ist bei „HL“ sogar noch extremer. Es handelt sich um ein einzelkaufmännisches Familienunternehmen, in diesem Fall um eine Erbengemeinschaft, die von Lutz Lehmann geleitet wird. Die Preise sind moderat bis extrem niedrig, was wohl vor allem an dem Totalverzicht auf Werbung, Marketing und Verpackung liegt. Der Internetauftritt wirkt bei „Harry“ wie aus den Anfangstagen dieses Mediums, er ist unsystematisch und unvollständig; besser man ergattert eine gedruckte Produkt- und Preisliste oder noch besser, man kommt in den Laden und probiert selbst. Als „Harry Lehmann“ 1926 seine Firma gründete, befand sich der Laden noch an anderer Stelle, aber gleichwohl ist die Lokalität in Charlottenburg altehrwürdig, und man hat nicht den Eindruck, als ob sich dort seit den 50-er Jahren in puncto Einrichtung und Gestaltung irgendetwas geändert hätte, einschließlich der skurrilen Tatsache, dass der Duftverkauf durch ein Angebot von Kunstblumen ergänzt wird. Eine größere atmosphärische Distanz zum schicken, teuren „Hipster“-Stil von Mitte und Prenzlauer Berg ist eigentlich nicht denkbar, und doch zieht vielleicht gerade dieser wahrhaft authentische Retro-Stil heute an, eben weil er nicht bloß „Stil“ ist. Das ist kein auf alt gemachtes „Vintage“, das ist wirklich eine Zeitkapsel.

Die Düfte, jedenfalls die gängigen, werden in großen, vielleicht zehnlitrigen, Behältern mit Glasstopfen feilgehalten, die an Apothekergläser und Destillierkolben erinnern. Die Grundform des Testens bei „HL“ besteht darin, den Glasstopfen vom Kolben zu nehmen und daran zu riechen. Man kann sich allerdings den Duft auch auf die Haut oder Papierstreifen applizieren lassen. Es stellt bei „Harry“, respektive Lutz, keine neumodische „Nachhaltigkeits“-Geschäftsidee dar, sondern eine über 90-jährige Praxis, dass man sich die Düfte in mitgebrachte Gefäße abfüllen bzw. in zuvor vor Ort für günstiges Geld gekaufte neutrale Flakons ein- bzw. nachfüllen lassen kann. Überhaupt werden die Düfte generell vor Ort abgefüllt (diverse gefragte Sorten und Größen sind vorab abgefüllt vorrätig), und zwar in 10-, 15-, 30-, 50- oder 100-ml-Flakons mit oder ohne Sprühvorrichtung. „Nach Gewicht“ darf heute aus rechtlichen Gründen nicht mehr abgefüllt werden, der Untertitel im Firmennamen hat sich aber aus traditionellen Gründen gehalten. So verschieden die HL-Düfte sind, so haben sie für mich doch eine gewisse DNA. Sie weisen typischerweise eine enorme, oft über 12- oder sogar 24-stündige Haltbarkeit auf und sind oft eher linear im Duftverlauf. Angeboten werden im Übrigen keine Eau de Toilettes und Eau de Parfums, nur klassische, also hochkonzentrierte Parfums. Daneben befinden sich im Sortiment einige exquisite Colognes, die aber in der Regel keine verdünnten Versionen von Parfüms, sondern eigenständige Düfte sind.

Wenn es ein UNESCO-Duft-Weltkulturerbe gäbe, dann wäre „Harry Lehmann“ mein Vorschlag für den deutschen Beitrag dazu. Seine Düfte, entstanden zwischen 1926 und 2017, umfassen ein ganzes Duftuniversum: Herrendüfte, Damendüfte, Unisexdüfte (formal gesehen differenziert HL überhaupt nicht nach Geschlechtern, aber einige Düfte lassen sich schon sehr deutlich zuordnen), viele Soliflor- und Solifruct-Düfte (wie Feige, Lavendel, Orange, Nelke), orientalische Düfte, zitrische, blumige, grüne, schwere, leichte, klassische, experimentelle, tragbare, untragbare, es ist einfach alles vertreten. Damendüfte wie „Sminta“ oder „Larissa“, Herrendüfte wie „Russisch Juchten“ oder der Lehmann’sche „Fougère“, die traumhafte, einmalige „Lindenblüte“, atypische und höchst ungewöhnliche Düfte wie „Verité“ oder „Habanera“, schöne Mainstreamkandidaten wie „Jubiläum90“, „Mirage“ oder „Valeria“, an solchen und vielen anderen Kompositionen zeigt sich, dass „Lehmann“ den Vergleich mit keinem Dufthaus der Welt, weder mit Guerlain oder Chanel, noch mit Creed oder Byredo, noch mit den vielen sehr modernen, sehr schicken und sehr teuren Manufakturen scheuen muss.

Es ist sehr zu hoffen, dass Lutz Lehmann die Familientradition noch lange weiterführt und dass sich zu gegebener Zeit für ihn ein Nachfolger findet! Und es ist sehr zu begrüßen, dass einem Großteil der Lehmann’schen Düfte ein neues Absatzfeld durch die Kooperation mit dem eher „hippen“ Label „Frau Tonis Parfums“ entstanden ist. Frau Toni füllt viele Düfte von „HL“ in eigene Flaschen ab und verkauft sie unter eigenem Signet, aber mit identischem Produktnamen – so ist „Sminta“ von HL identisch mit „Sminta“ von Frau Toni. Auf diesem Umweg haben viele Düfte von Harrys Kunstblumenhöhle sogar Eingang in diverse Lifestylemagazine und in die nur zwei, drei U-Bahn-Stationen, aber eine atmosphärische Welt entferne Parfümabteilung des KdW gefunden.

www.parfum-individual.de

Der dritte enorm originelle Duftshop des Mommsenkiezes, „The English Scent“, hat diesen vor einigen Jahren verlassen und domiziliert jetzt ein paar hundert Meter außerhalb. Deshalb, und weil dieser Beitrag schon ziemlich lang geworden ist, beschäftigen wir uns mit ihm in der nächsten Folge...

Nachtrag am 19.01.2018: Auf den Hinweis einer aufmerksamen Leserin ist zu berichtigen, dass es sich bei den HL-Düften, soweit es nicht Colognes oder (in ganz, ganz wenigen Fällen Rasierwässer oder EdTs) sind, nicht um Parfums (Extraits de Parfum), sondern um EdPs handelt. Ich bitte um Nachricht für den Irrtum. Nach Ergiebigkeit, Haltbarkeit und Sillage der meisten Lehmänner zu urteilen, drängt sich die Annahme, es handele sich um Parfums, allerdings auf. Entschuldigt aber nicht meine Schludrigkeit.

(Für die Berliner Duftspaziergänge sind Fortsetzungen in loser Folge geplant. Vorerst beabsichtige ich im Raum Charlottenburg-Wilmersdorf zu verweilen: The English Scent, Manufactum, Heinz Schlicht, Parfümerie Delfi...)

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