Gerry
Gerrys Blog
vor 11 Jahren - 30.08.2014
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Die Kultur der Nassrasur - ein Beitrag zur Entschleunigung

Diesen Artikel habe ich im Mai 2012 anlässlich unseres Besuchs auf der GAoP in Düsseldorf geschrieben. Er wurde auf der Parfumo Homepage veröffentlicht und ist dort noch im Archiv zu finden.

Die Kultur der Nassrasur - ein Beitrag zur Entschleunigung

Eine angenehme Überraschung für mich war es, Taylor of Old Bond Street mit ihrem Angebot an Rasur- und Pflegeartikeln auf der GAoP anzutreffen.

Die Nassrasur erlebt seit Jahren eine Renaissance, insbesondere mit den traditionellen Gerätschaften wie Rasierhobel, Messer und Rasierpinsel. Es gibt hierzu bereits einschlägige Internetforen und in denen geht es nicht einzig um Klingen, Hobeltypen, Pinsel und Rasiermesser. Der so genannten „Software“ wird ebenfalls ein breiter Platz eingeräumt – den Rasierseifen und Creams, Preshaves, Aftershaves, also allem, was zu einer optimalen Rasur beitragen kann und der Haut ein Gefühl von Frische und gepflegt sein verschafft, und natürlich gut duftet.

In Anbetracht moderner Multiklingen-Systeme und elektrischer Ultraschall Rasierer mag dieser Rückgriff auf längst überholt erscheinende Rasurtechnik wie Messer und Hobel antiquiert wirken, da sie doch verhältnismäßig aufwändig ist und Übung benötigt. Für meinen Vater und die erwachsenen Männer zu Zeiten meiner Kindheit, aber auch für mich in den Jahrzehnten später, war die Rasur in der Regel doch eher ein lästiges Übel. Hilfreich und gefragt war also, womit diese Prozedur schnell, sicher und preiswert erledigt werden konnte.

Als 1854 Jeremias Taylor in der Londoner Bond Street seinen Barbiersalon eröffnete, war die Rasur mit dem Messer noch die gängige Methode. Viele Männer scheuten aber diesen Aufwand und so war es üblich, sich vom Barbier oder Friseur rasieren zu lassen. Damals musste man sich nun mal für eine Rasur Zeit nehmen, aber eine scharfe Klinge und eine geschickte Hand alleine genügten damals wie heute nicht für eine gründliche, sanfte und pflegende Rasur. Was wäre eine Nassrasur ohne die Vorbereitung der Haut mit warmen Kompressen, ohne die Preshave-Öle für ein gutes Gleiten der Klinge, ohne einen feinporigen, stabilen und Feuchte haltenden Schaum und ohne wohlriechende und adstringierende Lotionen, Gels und Balsame für die Pflege nach der Rasur?

So entwickelte Taylor seine eigenen Pflegemittel und er legte hier besonderen Wert auf pflanzliche Ingredienzen.

Unterdessen suchten findige Köpfe nach Möglichkeiten, die Rasur sicherer und einfacher zu gestalten. 1901 kam erstmals ein von King Camp Gillette und seinem Partner entwickelter Rasierhobel mit Doppelschneidenklingen aus dünnem Bandstahl auf den Markt – der Rasierhobel, wie wir ihn heute kennen. Die Klinge musste nicht mehr abgezogen werden, sondern konnte gegen preiswerte Ersatzklingen getauscht werden. Den gängigen Quellen zu Folge, wurden von der Gillette Company 1904 bereits 90.000 Hobel und 10.000 Ersatzklingenpäckchen verkauft.

1917 trat die USA in den Ersten Weltkrieg ein. An den Fronten gehörte die Gasmaske zum überlebenswichtigen Teil der Feldausrüstung. Für ihren dichten Sitz war eine glatt rasierte Haut nötig. Gillette machte den großen Deal und belieferte die Army exklusiv mit ihren Rasierern. So erhielten 3,5 Millionen Männer einen Rasierhobel.

Es ist daher nicht verwunderlich, wenn der Barber-Shop mit der Zeit von der Masse der Männer immer seltener aufgesucht wurde und zu etwas wurde, das sich Mann nur gelegentlich gönnte.

Was aber weiterhin blieb, war der Bedarf an Rasier-Utensilien und Pflegemitteln. Taylor eröffnete aufgrund der Nachfrage in London ein weiteres Geschäft in der Jermyn Street und baute seinen Vertrieb aus.

In den Nachkriegsjahrzehnten wurden bei der Entwicklung des Rasierhobels weitere Meilesteine gesetzt. So wurde an der Möglichkeit gearbeitet, den Klingenwechsel einfacher zu gestalten. Gillette entwickelte für seine Modelle das „Twist To Open“ System (TTO). Beispiele hierfür sind die verschiedenen „Super Speed“ Modelle aus den 1940er und 1950er Jahren. Einen weiteren Komfort boten schließlich die „Adjustables“, bei denen erstmals die Möglichkeit bestand, den Klingenspalt durch einen Drehmechanismus zu verändern und den Hobel dem individuellen Bartwuchs anzupassen.

Das „Goldene Zeitalter“ der Rasierhobel lag sicher zwischen dem Ende der 1940er und den frühen 1960er Jahren. Wenn man die heutigen Konstruktionen mit den damaligen vergleicht, wird man einräumen müssen, dass bereits vor Jahrzehnten das Thema Rasierhobel technisch auf einem hohen Stand und nahezu ausgereizt war. Schließlich greifen heute nahezu alle Hersteller auf die seinerzeit gemachten Erkenntnisse und Konstruktionsmerkmale zurück. Die heutigen Rasierhobel unterscheiden sich gelegentlich noch im Design der Griffe und im Material von ihren historischen Vorbildern. Anstelle von vernickeltem oder verchromtem Messing wird nun auch Edelstahl verwendet.

In den 1950er und mehr noch in den 1960er Jahren wurden die elektrischen Rasierer immer populärer. Der Elektrorasierer bot noch mehr Sicherheit und ersparte eine aufwändige Rasurvorbereitung. Die Hersteller von Nassrasierern hielten mit Dosenschaum und mit Multiklingensystemen dagegen. Es entstand eine Art Wettstreit der Systeme – „trocken“ vs. „nass“.

Beide Seiten preisen ihre Systeme als sicher, einfach, gründlich, sanft und Zeit sparend an. Umso erstaunlicher ist es daher, dass viele Benutzer von Multiklingensystemen und Elektrorasierern nunmehr einen scheinbaren Rückschritt zu Messer und Hobel machen. Gut, blank polierte Messerklingen und Rasierhobel die eher wie ein Tool wirken und an denen Mann herumschrauben kann – diese Dinge üben eine gewisse Faszination aus. Reicht das als Erklärung für das wachsende Interesse an der traditionellen Rasurtechnik?

Hier schließt sich für mich der Kreis. Wenn ich mich unter Männern, die sich von Dosenschaum und System- oder Elektrorasierern abgewendet haben oder auch von mir selbst aus gehe, so spielt der Faktor Zeitersparnis keine Rolle mehr. Im Gegenteil, Mann nimmt sich Zeit. Die Rasur wird zum Entschleunigungsritual. Mann gönnt sich eine kleine Auszeit für die Rasur. Dazu gehören hochwertige Produkte für die Vorbereitung und die Pflege, und sie müssen angenehm Duften – aber da hat ja jeder seine eigenen Vorlieben. Schön, wenn es also eine Auswahl gibt.

Taylor of Old Bond Street – ein Beitrag zur Entschleunigung.

10 Antworten
FittleworthFittleworth vor 10 Jahren
Hervorragender Beitrag! Danke!
JosieJosie vor 10 Jahren
Ich habe meinem Vater immer fasziniert zugeschaut
wenn er mit dem Seifenschaum und dem Rasiermesser hantiert hat
und hab ihn ( obwohl ich ein Mädchen bin ) dazu überreden können dass er es mir lernt ....
hey war das aufregend als ich ihn zum ersten Mal rasieren durfte,
mein jetziger Mann LIEBT es wenn ich ihn rasurtechnisch verwöhne
und ich finds ziemlich sexy wenn ich meinem Mann eine klinge an den Hals setze
du hast recht es ist absolut entschleunigend - hat was von Wellnesskultur
Liebe Grüße josie
SantalumSantalum vor 10 Jahren
Da habe ich ein wenig zu sehr entschleunigt...
Eben erst auf den Artikel aufmerksam geworden, der auch mir aus dem Herzen spricht.
Bloß noch eine Warnung an alle Systemrasierer hinterher: viele steigen um, weil die Ersatzklingen für die Hobel billiger sind. Aber schlagt euch die Geldersparnis aus dem Kopf. Schon bald werden sich Tuben und Tiegel im Bad stapeln, daß Madame vor Neid erblasst. Und was es für schöne Pinsel gibt.. Und Mugs... Und eigentlich wäre auch ein Zweithobel schön... Und...
RickthedogRickthedog vor 11 Jahren
Yar, mein lieber Gerry! Ich rasier mich schon seit Jahren wieder mit dem guten alten Hobel, nebst dem ganzen zugehörigen Equipment und Ritual... und Yar, Ich brauche meine Zeit dazu und die nehm ich mir auch! Dank Dir für den Artikel - da fühl ich mich verstanden :-)
RoninRonin vor 11 Jahren
Gerry, schön, dass Du den Artikel wieder hervorgeholt hast. Danke.
@Yatagan: Hier war (bzw. ist) der Artikel: http://www.parfumo.de/blog/2012/page/4/
YataganYatagan vor 11 Jahren
Ein wunderbarer Kommentar, der mir - meine ich - schon einmal aufgefallen war, seinerzeit. Ich finde besonders bemerkenswert, dass Du auch den Faktor Zeit richtig einordnest. Es ist gerade dieses Quäntchen mehr (!) an Zeit, das ich brauche, das die Nassrasur so wertvoll macht. Wo finden wir denn noch Verrichtungen, die wir mit Muße erledigen dürfen? Früher war alles, alles Handwerk, nichts industrialisiert. Heute wird die Zeit schneller, atemlos. Nassrasur ist Atemholen und sie ist von ästhetischer Präzision. Da kommt kein Elektrorasierer mit. Rasierschaum ist natürlich abzulehnen, meine ich. Ich bevorzuge auch englische Rasierseife. Gerne selbst angerührt / angeschäumt im Tiegel. Natürlich gibt es da auch Creme aus der Tube (s.o. nicht nur aus Plastik, sondern zuweilen noch aus echten Tuben), die manchmal sogar noch besser zu verarbeiten ist, z.B. von Geo F. Trumper, von D.R. Harris. Truefitt & Hill etc., natürlich auch von den von dir genannten Taylor. Danke für diesen Beitrag. Gut!
LullabyLullaby vor 11 Jahren
Toller Beitrag! Ich teile die Faszinstion für die klassische Rasur. Rasiere bei mir aber nur nass die Konturen und da find ich den Hobel schwierig! Wenn ich mal wieder ein glattes Gesicht haben möchte greife ich vieleicht auch auf Rasierhobel und Pinsel zurück.:)
VollbartVollbart vor 11 Jahren
Schöner & interessanter Artikel.
AnneSuseAnneSuse vor 11 Jahren
Mein Friseur zieht in neue Räumlichkeiten, dann sitzen Damen und Herren (endlich wieder!) getrennt und die Herren bekommen einen Barber-Shop-Bereich dazu. Ich verstehe da zwar nix von, aber verstehen kann ich´s und die Nachfrage ist ganz offensichtlich da.
DanielFR87DanielFR87 vor 11 Jahren
Ich rasiere Selber mit Dachshaarpinsel, klassischem Hobel und Seife im Topf. Das hat wirklich was Entspannendes, und wenn man sich die Zeit für die Vorbereitung lässt ist, zumindest bei meiner Haut, sanfter und gründlicher als jeder System-oder Elektrorasierer.