Helena1411
Helena1411s Blog
vor 5 Jahren - 15.06.2019
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Parfum als Antidepressivum

(Trigger-Warnung:

Wer sich zur Zeit in einer depressiven Phase oder aber in einer Rekonvaleszenz befindet, sollte wissen, dass Beschreibungen zum Krankheitsbild folgen, die eventuell etwas lostreten können, was zur Verschlimmerung der Befindlichkeit oder zu Rückschritten in der Genesung führen kann) .

Vorab sei all denen gesagt, die einwenden mögen, dass man mit so einem Titel keine Scherze mache: Da stimme ich vollkommen zu. Der Titel ist in der Tat auch nicht humorig gemeint, sondern vollkommen ernst.

Denn: Ich habe Depressionen. Schlichtweg als Tatsache hier festgehalten, nicht dramatisierend oder effekthaschend, sondern sachlich-feststellend. Und um der Frage zuvorzukommen, warum ich das publik mache, sei so viel gesagt, dass ich, wo immer es geht, der Stigmatisierung entgegenwirken möchte. Depressive Menschen werden, auch wenn langsam ein Wandel im Denken der Gesellschaft stattfindet, immer noch zu häufig als Hypochonder, als in ihrer Person grundsätzlich labile Charaktere, als faul und nicht ganz klar im Kopf angesehen; und das kann ich daher behaupten, da ich alle diese Beschreibungen schon an mir selbst als mir entgegengebrachte Äußerungen erfahren durfte. Dass es sich um eine (psychische) Krankheit wie jede andere (physische) Krankheit handelt, scheint in das Bewusstsein vieler Menschen noch nicht vorgedrungen zu sein. Man sieht es ja nicht. Auch mir haben es die wenigsten angemerkt; ich wurde und werde immer als sehr lebenslustig, mit beiden Beinen im Leben stehend, humorvolle und schlagfertige Person charakterisiert. Und tatsächlich ist das auch meine Persönlichkeit (wenn ich nicht gerade in einer depressiven Episode stecke). Das heißt, die Menschen wirken zum Teil doch ganz „normal“, was auch immer die Begrifflichkeit „normal“ als menschliche Eigenschaft auch ausdrücken mag. Somit ist es vielfach scheinbar nicht nachvollziehbar, warum depressiv Erkrankte nicht in der Lage sind, arbeiten zu gehen, gesellschaftlichen Verpflichtungen nachzukommen, Hobbys zu pflegen, soziale Kontakte aufrechtzuerhalten, den Haushalt zu erledigen, vom Sofa aufzustehen, überhaupt noch aufzustehen. Auch das sind alles Erscheinungsformen, die ich selber erlebt habe bzw. erleben musste. Und ein „Nun reiß Dich doch mal zusammen!“ oder „Man muss sich auch mal selber in den Hintern treten!“ ist durchweg kontraproduktiv, denn es handelt sich nicht um einen Tag, an dem man mit dem linken Fuß aufgestanden ist, oder um eine einfache schlechte Laune.

Es handelt sich um eine ganze Episode an mit dem linken Fuß aufgestandenen Tagen, um ein allübergreifendes und allumfassendes graues Gefühl, dass so erdrückend werden kann, dass man tatsächlich nur noch grau fühlt, sprich emotionslos ist. Sozusagen seelisch abgestorben im lebendigen Körper.

Nun werden wieder Fragen aufkommen, was die Schilderung eines Krankheitsbildes in einem Blogeintrag auf einer Internetseite zum Austausch über Düfte zu suchen hat. Zum einen soll es als Einblick dienen zum näheren Verständnis, wenn ich den gesuchten Zusammenhang herstelle, zum anderen deutet der Titel schon die Richtung an.

In solchen z.T. schwer depressiven Phasen, die ich immer wieder durchlebt habe, ist es sehr schwierig, überhaupt an irgendetwas Freude zu empfinden oder eine Form des Wohlfühlens zu entwickeln. Wie schon gesagt, ist es ein Gefühl des Lebendig-Begraben-Seins, und darin bleibt wenig bis kein Platz für schöne Dinge im Leben. Was jedoch immer noch Bruchstücke solcher Wohlfühlmomente durch den grauen Nebel beschert hat und eine Ahnung von dem Schönen hinter dem besagten Grau erahnen ließ, das waren meine Düfte.

Düfte sind in der Lage, sich klammheimlich über die Geruchsnerven ins Gehirn zu schleichen, und auch wenn dieses in seiner Funktion durch eine vollkommen durcheinander geratene Produktion von Serotonin, Nor-Adrenalin, Dopamin nicht mehr in der Form aufnahmefähig ist, wie wir es gewohnt sind, so scheinen Düfte einen Bereich im Gehirn anzusprechen (ähnlich wie es Musik vermag), der mit dem Duft an ein verlorengegangenes Wohlgefühl anknüpfen kann.

Dabei musste ich feststellen, dass nicht jeder Duft diesbezüglich funktioniert. So sehr ‚laute‘ Düfte, nach Aufmerksamkeit schreiend, waren mir in solchen Phasen zuwider, schließlich wollte ich mich ja in mein Schneckenhaus zurückziehen anstatt laut posaunend umherzulaufen. Somit mussten Düfte wie Jil Sander No.4 mich verlassen (mittlerweile durfte er aber wieder einziehen), da zu diesem Duft wirklich auch eine gehörige Portion Selbstbewusstsein vonnöten ist.

Auch zu ‚fröhliche‘ Düfte, die geradezu vor guter Laune sprühten, konnte ich nicht um mich haben, letztlich waren sie damit vollkommen konträr zu meinem Empfinden. Also mussten die gesammelten Escada-Sommerdüfte ziehen. Bis heute mag ich sie nicht mehr gerne riechen, abgesehen davon, dass mir die gemeinsame DNA grundsätzlich nicht mehr zusagt.

Und die als ‚weiblich-erotisch‘ empfundenen Düfte gelangten ebenfalls auf das Abstellgleis, da ich mich in der Depression selbstredend auch alles andere als attraktiv oder ähnliches empfunden habe. Ein Duft wie z.B. Armanis „Elle“ verschwand in den hintersten Ecken meines Parfumregals, in der Hoffnung, irgendwann einmal wieder nach vorne rücken zu dürfen.

Welche Düfte hingegen in Krankheitsphasen in der erste Reihe standen, waren meine sogenannten und für mich als solche empfundenen ‚Wohlfühl-Düfte“. Sie zeichneten sich durch eine dezente Duftnote aus, durch eine gewisse unaufdringliche Wärme, durch eine Erinnerung an schöne Zeiten, durch ein sanftes Umhüllen, ohne erdrückend zu sein. Es waren Düfte wie Baronys „Coconut“ (mittlerweile unerträglich und auch erdrückend für mich, aber vor Jahren tatsächlich eher wie eine warme Decke um mich herum), wie Lagerfelds „SunMoonStars“ mit seiner sanften Pudrigkeit (bis heute einer meiner absoluten Wohlfühl-Düfte), wie Joops „All about Eve“ in seiner dezenten Frische in Erinnerung an schöne Twen-Zeiten (auch jetzt noch zwischendurch gerne von mir genommen). Diese Düfte waren wie ein Schutz für mich und um mich herum und vielleicht auch vor dem grauen Gefühl, die Barriere, dass der graue Nebel nicht in jede Ecke und in jeden Winkel meiner Seele einsickern konnte. Sie hielten mich, trugen mich, bewahrten mir die Vorstellung von Behaglichkeit, auch wenn es mehr eine Vorstellung davon als denn das tatsächliche Gefühl war.

Und daran sieht man, zu was Düfte fähig sein können. Es müssen dafür keine extravaganten, hochpreisigen oder dem Nischensegment entstammenden Düfte sein. Es reicht aus, dass sie etwas in uns in Bewegung setzen können, dass sie Emotionen und Assoziationen zu erzeugen vermögen, dass sie in der Lage sind, angenehme Bilder zu evozieren. Sie sind ein Kleinod, das wir uns bewahren sollten, da sie uns vor dem Grau der Welt und auch vor unserem eigenen Grau bewahren.

Vielleicht ist jetzt deutlich geworden, warum ich diesen (sehr persönlichen) Blog verfasst habe. Es ist das Aufmerksam-Machen auf eine Krankheit, zu der jeder Mensch stehen dürfen sollte, die wundervolle Wirkung von Parfum, uns auch in wirklich schwierigen Zeiten zur Seite zu stehen, und die Aufmunterung an all diejenigen, die Ähnliches erfahren müssen: Ihr seid nicht allein damit!

Und weil ich dieses Forum sehr schätze, hoffe ich auch sehr, dass ich mich nicht um persönlich angreifende oder unangemessene Kommentare sorgen muss. Wie gesagt, es ist in der Tat sehr persönlich, aber wenn nicht offen damit umgegangen werden kann, dann frage ich mich, in was für einer Gesellschaft wir eigentlich leben.

Ich danke Euch für das Lesen!

P.S.: Natürlich erübrigt sich in solch einer Krankheit nicht der Gang zum Arzt und Psychologen; das wollte ich selbstverständlich nicht andeuten. Es geht um die kleinen zusätzlichen Hilfsmittel, die einem ein wenig Licht ins Dunkel bringen!

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