Helena1411
Helena1411s Blog
vor 4 Jahren - 16.11.2019
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Das Analyse-Problem

Vor einigen Jahren unterhielt ich mich mit einem sehr guten Freund, der in Wien Musik und im Speziellen Violine studiert hatte und anschließend eine Zeit lang bei den Wiener Philharmonikern spielen durfte sowie als Mitglied eines Kammerorchester-Quartetts tournierte. Wir sprachen über klassische Musik und über eines meiner liebsten Stücke, nämlich das Violin Concerto No.1 in G-Moll von Max Bruch, und ich merkte an, dass es für ihn als studierten Violinist sicherlich noch wundervoller als für mich Laien sei, solch ein Stück zu hören. Er verneinte diese Vermutung meinerseits mit der Begründung, er sei, wenn er ein klassisches Stück anhöre, die gesamte Zeit in der Analyse des Spieles, der Umsetzung und Ausführung, der Noten gefangen, sodass er gar nicht mehr die Komposition in Gänze wahrnehmen könne bzw. es ihm schwerfiele, sich auf die Schönheit der Komposition einzulassen.

Das bedauerte ich für ihn damals sehr, denn ein Mensch, der, seitdem ich ihn kannte, die klassische Musik liebte und auch mit Leib und Seele lebte sowie spielte, sollte den wundervollen Klang einer Symphonie, das verzaubernde Spiel einer Violine, eingebettet in das gesamte Orchester, doch vor allen anderen Menschen genießen können. Stattdessen war es umgekehrt: Ich als vollkommener Laie genoss die Kompositionen in ihrer Vollendung, er als absoluter Spezialist analysierte, sezierte und verkopfte das klassische Stück in seine Einzelteile.

Mittlerweile fange ich an, ihn zu verstehen. Als ich mich hier anmeldete, waren Düfte für mich komplexe Gesamtwerke, die ich einfach nur genießen wollte und konnte, ohne dabei explizit auf den Duftverlauf, auf die Kopf- Herz- und Basisnoten oder die einzelnen Duftbestandteile zu achten. Ein Duft war einfach präsent. Nicht mehr und nicht weniger. Im Laufe meiner Zeit hier, die wahrlich noch nicht lange andauert, lernte ich Stück für Stück, einen Duftverlauf zu beobachten. Es gelang und gelingt mir immer besser, einzelne Duftbestandteile herauszuriechen, auch wenn meine Analyse noch meilenweit von einer wirklich fachkundigen entfernt ist. Ich achte auf Kopfnoten, warte gespannt auf die Herznote und versuche, die Basis zu entschlüsseln. Und es macht mir unfassbar viel Freude, Düfte zu sezieren, sie zu ergründen, ihre Vielschichtigkeit zu erfassen. Und die vielen neuen Düfte, vor allem auch Duftrichtungen ermutigen mich immer wieder aufs Neue, nicht aufzugeben, wenn ich an irgendeiner Stelle stocke, weil mir ein Duft zu komplex erscheint, sodass ich die einzelnen Bestandteile nicht verorten kann. Und dennoch gelingt es mir, den Duft auch in seiner Gesamtheit wahrzunehmen, so als schritte ich von einer Mikroebene zurück auf eine Makroebene, um von da aus einen Gesamtüberblick zu erhalten.

Bei Düften jedoch, die aus meiner schon lange verstrichenen Vergangenheit herrühren, gerät der Wechsel von Mikro- zu Makroebene und umgekehrt aus dem Gefüge. Diese Düfte sind, wie hier schon oft in diversen Kommentaren, Blogbeiträgen und Forumseinträgen diskutiert, fast ausschließlich mit Erinnerungen, Emotionen und Assoziationen behaftet, geradezu untrennbar verknüpft. Trage ich nun solch einen Duft auf, entstehen in direkter Folge Bilder sowie Gefühle, die dem gesamten Duft zugrundeliegen. Fange ich aber an, einen derartigen Duft zu analysieren, beginnen diese Bilder und Emotionen zu verschwimmen, sich aufzulösen. Es scheint, als bringe der Schritt zur Mikroebene eine Abwendung von den ursprünglichen Konnotationen mit sich und löse die Verknüpfungen eines Duftes mit seinen Assoziationen.

Als Beispiel möchte ich das Parfum Oilily Flowers anführen, welches sicherlich kein Meisterwerk der Parfumeurskunst ist, jedoch zu meiner Teenagerzeit an jeder Ecke zu riechen war und einen absoluten Trend damals darstellte. Zudem war es mein allererstes eigenes Parfum und ich habe es zu jeder nur sich bietenden Möglichkeit aufgetragen. Vorgestern kam ein Flakon dieses Parfums bei mir an, aus retrospektiver Sentimentalität gekauft. Und mit dem Aufsprühen, auch wenn der Duft tatsächlich der Reformulierung anheimgefallen ist, ploppten - um hier in Computersprache zu beschreiben - diverse innere Bilder, Emotionen und Gedanken auf. „Traue ich mich, jetzt in den Musikexpress zu steigen oder nicht?“, „Ob der Ausschnitt nicht doch zu tief ist?“, „XYZ ist so toll, warum nimmt er mich nicht wahr?!“, „Egal, ich trage jetzt trotzdem Lidschatten auf, egal, was Mama sagt!“ und viele weitere aus heutiger Sicht vielleicht unbedeutende Banalitäten im Hirn einer Jugendlichen, die aber überaus wichtige Überlegungen sein können, wenn man diese Jugendliche gerade zu der Zeit ist. Und es ist vor allem dieses unbeschreibbare Gefühl des Zurückversetzt-Werdens in seine eigene Jugend; es scheint fast, als könne man seinen eigenen viel jüngeren Körper wieder fühlen, stecke tatsächlich in den Alltagsdilemmata eines Jugendlichen, spüre diese vergangene Zeit wieder, als wäre sie gerade erst vergangen. Vermutlich kennt jeder diesen Zustand.

Wenn ich aber direkt nach dem Aufsprühen zu analysieren beginne, versuche, die einzelnen Bestandteile herauszufinden, dann verflüchtigen sich diese Assoziationen, werden die Bilder schemenhaft, verliert der Duft seine Zauberkraft der Zeitreisemöglichkeit. Es scheint, als gehe mit der Analyse, mit der genauen Untersuchung eines solchen Duftes eine Neu-Besetzung einher, als überschriebe man eine Festplatte, wodurch auf Bisheriges nicht mehr zugegriffen werden könne. Bei manchen (negativ besetzten) Düften sicherlich hilfreich, wobei die Erfahrung häufig lehrt, dass in einem solchen Falle das Prinzip fehlschlägt. Aber bei mir liebgewonnenen, aus meiner Vergangenheit stammenden Düften möchte ich ein Überschreiben der gekoppelten Emotionen nicht; sie sollen genauso, wie sie sind, bleiben. Mit all ihren Emotionen, Assoziationen, Gedanken und Erinnerungen

Ob es an mir liegt oder es anderen auch schon so erging, weiß ich nicht. Für meinen Teil habe ich beschlossen, dass es Düfte geben darf, die ich noch wie früher riechen darf, und zwar früher im doppelten Sinne als verknüpfte Erinnerung, aber auch als noch desorientierte, vollkommen ungeschulte Nase, die einfach nur den gesamten Duft wahrnimmt.


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