Konsalik
Konsaliks Blog
vor 6 Jahren - 17.09.2018
20 30

​Das Problem mit der Bewertung

Ich habe Sartorial von Penhaligon's mit 9,5 Punkten bedacht. Die klare Vision und ihre meisterhafte Ausführung haben mir schlicht keine Wahl gelassen: Ein so gut gemachter, komplexer und doch in seinem Duftverlauf kompakt sich darstellender Duft hat keine geringere Bewertung verdient.

Geoffrey Beenes Klassiker Grey Flannel hingegen wurde von mir schwächer bewertet. Eine klare 8 war er für mich zwar immer noch, aber die Interpretation in meinem Kommentar zu ihm war eindeutig eine hinzukommende. Ich weiß nicht, ob er so vom Parfümeur gewollt und gedacht war. Und so sehr bin ich nun nicht in das postmoderne Spiel der Dekonstruktion von Intentionen vertieft, als dass dieser Befund für mich ohne Belang wäre. Zudem ist die puderig-florale Seifigkeit zwar sehr schön, aber in ihrer Komposition nicht von höchster Einzigartigkeit (unabhängig davon, ob Duftzwillinge existieren mögen, oder nicht). Er riecht etwas... hausbackener. Natürlich, im Gegensatz zum Mainstream (wir tun für den Moment mal so, als wüssten wir genau, was damit gemeint sein soll) ist er immer noch eine eigensinnige Abseitigkeit. Dennoch. Weniger kunstvoll, komplex, bestaunenswert.

Ich trage Sartorial kaum, Grey Flannel hingegen lege ich in schönster Regelmäßigkeit auf. Bei Ersterem ist es die metallische Dampfigkeit, die mich - morgens wie abends - nur allzu oft befremdet, ja, geradezu abstößt. Sitze ich mit ihm auf der Haut im Auto, kann es passieren, dass mir flau wird. Ich empfinde ihn als fordernd und raumgreifend; nicht so sehr den Raum Dritter, sondern meinen eigenen. Ich muss schon sehr aufgeräumt und "bei mir" sein, um ihn bemeistern zu können. Grey Flannel hingegen hilft mir in den Mantel, hält mich frisch, arbeitet für mich, verschafft mir Raum, ohne wie ein gestrenger Arbeitgeber tadelnd auf meine jeweilige Tagesform zu blicken und Korrekturen zu wünschen.

Was mache ich nun daraus? Hinnehmen, dass ich von meiner inneren Verfasstheit her häufiger eine 8 als eine 9,5 bin? Nein, das Bild passt nicht. Knize Ten war "in my book" eine satte 10 und ihm fühle ich mich stets gewachsen. Es ist eher die Frage, ob man nach angemessenen Maßstäben bewertet. Sollte man bei der Bewertung eher den Aspekt des Toiletten-Artikels in den Vordergrund stellen? Es spricht einiges dafür. Immerhin wird es in entsprechenden Geschäften in Plastikfolie verpackt angeleuchtet und mit einem Preisschild versehen. Es gibt auch bisweilen Angebote. 25% off vor Weihnachten. Oder stellt man in der Bewertung den Charakter eines Kunstwerks, der Komposition einer auf der Welt höchst seltenen, geschulten Nase heraus. Wenn Delphine Thierry, von der Kamera begleitet, über viele Wochen damit ringt ihrer Vision eine Gestalt zu geben, fällt es schwer, das Ergebnis aus Rezensentenperspektive zu behandeln wie Kosmetiktücher oder Glasreiniger.

Das Problem ist durchaus ein tiefes und Denker wie Walter Benjamin und (wenn auch in leicht verminderter Klarsicht) die Männer der Frankfurter Schule haben deutlich das Problem des irreversibel gewordenen Warencharakters moderner Kunst gesehen. Nicht einfacher wird es durch den gegenläufigen Trend, gemeine Waren zu Kunst oder wenigstens zu Kunsthandwerk zu erklären. Jede zweite neueröffnete Pommesbude wird heute gleich zur Kartoffelwerkstatt oder zum Erdäpfel-Atelier. Dieser Undurchsichtigkeit und Gegenläufigkeit des Verhältnisses von Kunstwert zu Waren- oder Gebrauchswert beizukommen, ist nicht leicht und vielleicht gar nicht lösbar. Dennoch, so würde ich behaupten, liegt diese Schwierigkeit auch auf Parfumo jeder Duftbewertung in unterschiedlichem Bewusstheitsgrad zu Grunde, egal wie entschieden naiv man sich erklären will (wie auch ich so oft), doch nur dem eigenen, unschuldigen Ge- oder Missfallen mit Worten und Zahlen Gestalt zu verleihen.

Ich komme dem Ganzen, wen wundert's, nur behelfsmäßig bei. Natürlich schlage ich mich tendenziell trotzig auf die Seite der Kunst, aber versuche mir das geschilderte Problem mit einem billigen Kniff auf Distanz zu halten: Mein Körper sei ein gemütliches Wohnzimmer, Sartorial ein großflächiges, bedeutendes, unendlich einnehmendes Kunstwerk; sagen wir: Caspar David Friedrichs "Mönch am Meer". Grey Flannel hingegen sei ein kleineres, weniger bedeutendes Werk eines epigonalen Malers der Romantik. Ein schönes, kompetent arrangiertes Landschaftsidyll. Was hänge ich mir wohl in's Wohnzimmer, wenn es Wohnzimmer bleiben soll? Sartorial kommt also in die Vorhalle, neben den Treppenaufgang (auch wenn sie mir bisweilen dafür nicht repräsentativ genug erscheint).

Wie haltet ihr es?

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