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vor 3 Jahren - 22.10.2021
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Über die Theorie der Sehnsucht

Lange bevor ich in die Parfumo-Materie eingetaucht bin, habe ich Düfte sehr gerne als Sehnsuchtsorte empfunden. Das ist noch immer so, aber die Auseinandersetzung mit ihnen ist eine andere, vielleicht tiefergehende, aber vor allem … bleiben wir der Einfachheit halber bei ‚eine andere‘ geworden.

Neben subjektiven Eindrücken, die mit einer bewussten Detektion sehr persönlicher Erinnerungen, Assoziationen, Empfindungen und Neigungen einhergehen, haben auch intersubjektive Eindrücke zurecht einen hohen Stellenwert. Die Möglichkeit, Düfte zu kategorisieren und sie hinschlicht bestimmter Merkmale zu standardisieren und klassifizieren, fernab von hauseigenen Hersteller-Beschreibung als Marketingmittel, hat diese Plattform zu einer Quelle quasi-wissenschaftlicher Grundlagenforschung gemacht. Das ist sehr hochgepokert und sicher auch in Teilen überhöht, aber in meiner Wahrnehmung gibt es kaum bis gar keine ähnlich differenzierten, kurzweiligen und menschlicher-anmutenden Fachforen, als jenes, in welchem wir uns gerade bewegen.

Während der eine gerade recherchiert, kauft ein anderer aufgrund einer Rezension/eines Statements. Oder verkauft womöglich selbst im Souk. Füllt ab. Mit Apothekerspritze, Pipette, Brille und Kittel. Unter Laborbedingungen. Leert einen Flakon. Schreibt selbst etwas zu einem Duft. Begibt sich dabei vielleicht in lyrische, ironische, oder minutiös aufbereitende Gefilde, die den Anschein eines Gedichts, einer Kurzgeschichte oder eines Essays machen. Erhält Proben. Stapelt Umverpackungen. Schmeißt sie weg. Bunkert in den hintersten Reihen. Freut sich, sie zu kennen.

All das passiert zeitgleich und bedingt sich gegenseitig, ist reflexiv und miteinander verwoben. Es kann bis ins Endlose potenziert werden. Denn sämtliche soeben beschriebenen Prozesse laufen nebeneinander ab, und in deren Fokus steht nur einer von derzeit 144412 (Stand zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Beitrags) hier gelisteten Parfums.

Während sich in den tiefen Sphären einschlägiger Foren zwar wahre Errungenschaften tummeln und Wissenswertes darauf wartet, gelesen zu werden, fehlt dem Gesamteindruck dabei oftmals der Bezug zur Realität, zur Außenwelt. Kurz: die Kommunikation auf Augenhöhe, vor allem gegenüber Nicht-Mitgliedern. Runtergebrochen bedeute das: Die Verbindung zu Menschen ohne Account ist offline.

Das Schöne und erfrischend Einzigartige hier ist jedoch, dass auch diese vermeintlich „Außenstehenden“ ohne „Fachkenntnisse“ verstehen können, was hier passiert. Denn auch sie tragen nicht selten Parfums. Sei es aus rein pragmatischen Gründen, einer Neigung, einer Empfehlung folgend oder einer Mixtur aus all dem. Düfte machen das. Musik kann das auch, Lyrik und Prosa sowieso, alles Technische und vieles mehr. Aber meistens wird es sehr schnell, sehr unverständlich, kompliziert und nicht mehr nachvollziehbar.

Ich habe das Gefühl, hier kommt auch der ungeschulte Jüngling, die gesetzte Theaterintendantin, der überarbeitete Familienvater, die gestresste Hausfrau und jeder, der gerade auch nur eine intensive Parfum-Phase durchläuft, auf seine Kosten. Dass sich dabei immer Blasen (Filter-Bubbles) bilden, liegt wohl in der Natur der Sache begründet. Jedoch bin ich der Auffassung, dass die handelsüblichen Parfumo-Blasen weitaus vielschichtiger und fluider sind als anderswo geläufig und üblich. Sie bilden die gesellschaftliche Breite meines Erachtens erstaunlich gut ab. Aber dieser Eindruck ist letztlich auch nur die Wahrnehmung eines Mitglieds dieser Blase. Objektivität, falls es so etwas gibt, sieht sicher anders aus.

Am Ende eines Beitrags fragt man sich zwangsläufig – wenn auch nicht bewusst, dann zumindest unterbewusst – was hat mir dieser Text jetzt gebracht. Denn gerade in Foren wie diesem, geht schnell viel Zeit ins Land und man hadert mich sich, ob das denn jetzt wirklich das war, was man „gesucht“ oder „gebraucht“ hat.

Grundsätzlich gilt, dass Parfumo in meinen Augen kein ergebnisorientiertes Forum par excellence ist. Klar, kann man mal schnell die Einschätzung eines Duftes nachlesen oder auf dessen Ingredienzien schielen. Das eigentliche Potenzial liegt aber darin, sich auf den Weg zu machen und das Ziel nicht zu kennen. Eine Reise anzutreten, die nicht lukrativ oder plausibel erscheint, dafür aber umso spannender und bewusstseinserweiternder. So verstehe und dafür verehre ich diesen „Special Place“ im World Wide Web. Das finde ich schön.

Allen Lesenden wünsche ich ein wohlriechendes Wochenende. Duftempfehlungen sind natürlich immer gerne gesehen.

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