Mokka
Mokkas Blog
vor 8 Jahren - 15.12.2015
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Leises Vergessen

Warum fahren wir morgen erst um 8.00 Uhr?

Ich zucke zusammen.
Genau diese Frage habe ich schon öfter in diesem Jahr beantwortet.
Weil ich um 9.00 Uhr im Büro sein muss. Vorher bringe ich dich nach Hause.

Ach, das wusste ich nicht. Ich dachte, du hast frei.
Nein, ich arbeite doch jeden Tag. Schon seit Jahren.

Im Laufe des Abends steht sie immer wieder auf, kramt in ihrer Reisetasche. Setzt sich wieder hin um kurz darauf in ihrer Handtasche zu wühlen. Dann zur Jacke und zurück zum Sofa.

Ach, das muss ich mir auch abgewöhnen! Schimpft sie mir sich.
Was denn?

Na, dass ich immer wieder nach dem Schlüssel schaue. Habe ihn schon mal in meine Jackentasche gesteckt für morgen. Ich bin so unsicher und weiß manchmal nicht, wo er ist.

Wenn es dich beruhigt, schau halt fünf Mal. Dann bist du sicher.

Die Gespräche wiederholen sich in ähnlicher Form bei jedem Besuch, bei jedem Treffen.
Wenn sie mich fragt und ich antworte, schauen mich unsichere Augen an. Ich sehe, dass sie durch leere Zimmer geht und nach der Erinnerung sucht. Wie froh sie ist, wenn sie etwas greifen kann. Ja, manchmal sitzt es an Ort und Stelle. Ein kleiner Triumpf!

Dass ich dich von Klaus grüßen soll, hab ich schon gesagt?

Hat sie.
Danke schön und grüße lieb zurück, ja?

Und ich dachte schon, ich hätte es vergessen.

Ich habe Angst, dass ich so tüdelig werde. Ich vergesse so viel in letzter Zeit. Das muss sich ändern!
Sie wirkt wütend, unsicher.
Fängt oft an zu weinen. Ich will euch nicht belasten, nicht nerven.

Was du jetzt vergisst, brauchst du nicht mehr. Das Wichtigste kannst du dir doch merken. Mach dir keine Sorgen um die anderen...

Hast du genug getrunken? Rufe ich aus der Küche. Ja, ja!
Ich schaue auf ihr volles Glas Wasser.

Hab ich dich schon von Klaus gegrüßt?
Er war gestern bei mir. Ich sollte dich unbedingt grüßen.

Bei der nächsten Nachrichten-Sendung im Fernsehen seufzt sie mehrmals tief. Spiegelglatte Fahrbahnen, Unfälle, Schneegestöber. Oh Gott! Wie schrecklich. Paris, Brüssel, Terror, Schüsse, Polizei, weinende Menschen, Kerzen, Flüchtlingstrecks, Kälte …

Die Nachrichten überfordern sie. Sie wird überrannt von ihren Erinnerungen. Damals mit 13 musste sie mit ihrer Mutter und dem kleinen Bruder fliehen. Eine harte Zeit im Winter. Eine schmerzvolle Zeit mit Hunger, Frieren, Verletzungen. Unterbringung auf einem Bauernhof, vorher in einer Sammelunterkunft. Wo der Vater ist, weiß niemand. Er zog in den Krieg. Später ging es weiter Richtung Ruhrgebiet, sie fand in einer Fabrik Arbeit.

Nach dem letzten Gang ins Bad kramt sie in ihrer Reisetasche herum. Seufzt und greift in ihre Jacke im Flur. Schaut sich unsicher um.

Gute Nacht! Rufe ich.

Gute Nacht, mein Kind.
Wann fahren wir morgen früh los?

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