Wenn der Postmann 3 Mal klingelt: Textanfänge, Aufreisso.de & Vertreibmich.com
Auf Wunsch mancher Leser dieses Blogs schicke ich dem längeren, würzigeren Haupttext ein Kamillen-Baldrian-Extrakt als Intentions-Kondensat vorweg: Leser freuen sich über originelle, abwechslungsreiche Texte. Das Ablaufprotokoll Eurer Begegnung mit einem Parfüm ist oft kein leserfreundlicher Texteinstieg. Texte zu polieren, macht sie besser. Lasst Eure Phantasie ein wenig spielen, anstatt Duftpyramiden nachzubeten. Dufterlebnisse finde ich interessanter als Preis- und Marketing-Konzepte, die in knapper Form natürlich auch informativ sind.
Wer hypersensitiv ist oder auf Witz, Wortspiel, Phantasie, Bildungsgut sowie Abschweifungen allergisch reagiert, die lese jetzt besser nicht weiter.
Für alle andere: Die hot’n spicey Version der Postmann-Textoptimierungs-Überlegungen
Öfters las ich hier ein paar Dutzend Kommentare am Stück. Dann bekam ich als einfühlsamer Leser, der mit den Autoren und Texten richtig mitgeht, wunde Finger, Wadenmuskelkater, Adrenalinschübe und hohen Blutdruck. Nicht so schön und nicht gesund. Denn von 100 Texten, beginnen 20-40 mit ausführlichen Schilderungen, wie bestellt wurde, wie der Postmann klingelt, wie man zur Haustür spurtet, die Lieferung übergeben wurde, wie das Paket aufgerissen, die Luftpolsterumhüllung entfernt, die Schutzhüllen mühsamst aufgefriemelt, das Schächtelchen aufgepackt, der Flacon rausgezerrt, in die Hand genommen und der Sprühkopf betätigt wird und.
Die meisten hier haben das doch bestimmt 10-100 Mal selbst schon so erlebt. Und ich hab das wohl 3000 Mal hier gelesen. Nichts Neues unter der Lieferketten-Sonne, möchte man meinen. Mich langweilt das. Natürlich erlebt IHR den Ablauf des Erstkontakts mit dem neuen Duftwasser so - wir doch auch. Aber wer will das ständig LESEN? Wir wollen was über den Duft erfahren, dazu vielleicht noch Originelles und Wissenswertes oder auch Lustiges rund herum um das Parfum.
Die Details der Verpackung und Lieferung gehören eher nicht dazu. Dafür gibt es im Logistik- und Speditionswesen eigene Websites: Die altehrwürdige Site Postmanno.de, neuerdings auch Postwomana.de und Translieferao.net sowie Verpacko.eu gelten hier als führend. Auch Aufreisso.com ist eine sehr angesehene Plattform für solche Fragen. Vielleicht wollt Ihr Eure diesbezüglichen Erlebnisse einfach dort publizieren?
Oft wird die duftselige Leserschaft auch mit knallharten Preisangaben überfallen. Das wirkt nicht schön; sondern auf mich eher billig. Es vertreibt den zarten Schleier einer irgendwie ätherischen, über dem roh Materiellen sich verströmenden Parfümwelt. Preise sind wichtig, das stimmt. Doch in meiner protestantischen Kinderstube bekam ich vermittelt, dass man zwar ans Geld denkt und es zusammenhält (es z.B. nicht für Marly’istischen BlingBling zum Fenster rauswirft). Aber eben auch: dass man darüber nicht so gern oder ausführlich spricht. In den USA ist das zugegebenermaßen anders. Eventuell können wir ja dem Übersetzungsalgorhythmus (the famous Jandl-Machine for English Fragrance Poetry) für Parfumo.net beibringen, dass er die englische Edition mit fettem Geld-Geschwafel versehen soll, die deutsche hingegen ein wenig davon befreien möge? Einen kleinen Hinweis, ob und wie teuer das Parfum ist, vielleicht eher nicht am Anfang des Textes, das finde ich sehr sachdienlich, aber nicht zuviel vom lieben Geld.
Schaut mal: Ihr rennt doch auch nicht mit dem Preisschild oder dem Hinweis „Im Schlussverkauf ergattert“ ins Berghain, in die Philharmonie, in die Nationalgalerie oder in ein gutes Restaurant. Oder womöglich gar mit dem Preiszettelchen an Eurer Panty zum Date in Kevins Pantry…. Und Parfumo.de, das ist in meinen Augen geichsam die angesagte Disco, das anspruchsvolle Forum, der Feinschmecker Laden (oder das Boudoir) für Duftfreunde: da geht’s um die Feinheiten der Duftkunst, nicht um McDeals.
Weniger oft als die Paket-Aufreisser-Anfänge(r), oder das Preis-Boasting, wiewohl nicht ganz selten, begegnen mir Marketingstudenten. Davon scheint es viele hier zu geben: vermutlich müssen Marketingfachleute gut duften und treiben sich deshalb hier geballter herum als die vom Herrn Teste ersehnten Musikwissenschaftlerinen und Maler, Förster oder Fischerinnen, Literatur- oder Philosophiestudierenden, Bio- oder Neurologen, Soziologinnen oder Clowns, Gärtner oder Köche und Sommeliers, deren Assoziationen und Metaphernräume der Parfümsache wahrscheinlich dienlicher wären als breit erörterte Marketingkonzepte?
Ungern lese ich (in Kommentaren!- in einem darauf spezialisierten Blog, ist das was anderes), welche Zielgruppe zu welchem Preis mit welcher Verpackungsfarbe und welchem Werbegesicht usw. für diesen - dann in einer Duftspezifik gar nicht aufgeschlüsselten! - Duft in Frage kämen. Dass der besprochen Duft für 66% billiger mit jenem anderen Werbegesicht und jenen anderen Vertriebsdrogisten irgendwo an irgendwen viel besser zu verkaufen wäre, DAS interessiert mich als Parfumo irgendwie nicht. Warum bloß? Dafür gibt es anderswo Spezialseiten: Vertreibmich.de oder Verkloppmichweltweit.net möchte ich hierfür empfehlen.
Für den Leser ist es auch kein gutes Zeichen (und kein Grund weiterzulesen), wenn Ihr gleich eingangs gesteht, dass ihr den Duft gerade frisch bekommen habt. Dass ihr beim Schreiben des Textes also vermutlich mitten in der Herznote steckt, womöglich schwitzt wegen der sexy Postbotin und der Auspackarbeit - jedenfalls von der Basisnote und Nachhall-Phänomenen also kaum ernsthaft Zeugnis ablegen könnt. Ein kleiner Hinweis, wann- und wie oft und wo Ihr den Duft getestet habt (in der Parfümerie oder zuhause) ist hingegen sehr aufschlussreich.
Hier nun aber lieber keine ausführlichen Erzählungen über die Regalzeilen und das Personal von Dou, Ross, DutyFree Shops oder ähnlichen Etablissements. Die meisten hier wissen, wie es da aussieht und zugeht. Zumal es auch für dieses Spezialgebiet Liebhaber, Fetischisten (jedem Tierchen sein Pläsirchen) und folglich im Netz Spezialseiten gibt: etwa Ladenregalo.de oder Mirdochegalo.net oder Douglettensindnett.com. (Hier stand anfangs ein übertrieben sprachspielerischer Link auf die Türkisen.de oder Die Grünen...).
Wertvoll im Hinblick auf Ladenerlebnisse scheint mir auch das Forum für Connaisseure: LEHMANNstattHeinemann.de. Unter den Hunderten Parfümläden sowie D-F-Shops, die ich bisher betreten habe, gab es genau zwei, die mich wirklich beeindruckten und ästhetisch ergriffen: Harry Lehmanns Individualparfümerie in Berlin Charlottenburg, sowie das zweistöckige Stammhaus Guerlains auf den Champs-Elyssées in Paris. Darüber oder weitere ähnlich außergewöhnliche und sehenswerte Geschäfte werde ich jede (halbwegs genau beobachtete und nicht ganz lieblos formulierte) Zeile sehr gern lesen. Standard Shopping-Erlebnisse über Standard-Ketten-Filialen und DUFRYs – erscheinen mir als verzichtbare Textbausteine.
Frischausgepackt-Erlebnisberichte sind, wenn ihr mal nachdenkt, prinzipiell suspekt und meist weniger hilfreich, da beim Parfümschreiben Erfahrung und Wiederholbarkeit, wie anderswo auch, zählt. Darum scheinen mir Kommentare, die auf einmaligen Kontakt mit dem Testparfum schließen lassen, weniger wertvoll als Erfahrungen und Texte, die von mehrmaligem Tragen des Duftes zeugen.
Die Königsklasse erreicht ihr diesbezüglich, wenn ihr von 10, 20 oder 40 Jahren Dufterlebnissen mit einem Duft (oder bei Neuerscheinungen: 10 oder 20 Tagen) berichten könnt. Connaisseure beginnen zu vibrieren, wenn Euer Text in etwa so beginnt: „Meine Kräfte schwinden. Sie reichen kaum mehr hin, meinen Shalimar-Flacon, gefüllt mit orientalischen Essenzen, zur Nase zu führen. Seit seiner Erstkreation (1925) ist dies mein Lieblingsduft, auch wenn ich hunderte andere Parfüms zwischendurch mal probierte und trug.“
Auch erfahrenste Kenner erbeben und greifen zum Riechfläschchen, wenn sich hier uralte Erstträger und -Trägerinnen von Jicky zu Wort melden, die vom Hype berichten, den der Meilenstein moderner Parfümeurskunst kurz nach dem Aufbau des Eiffelturms (1889) auslöste. Heutige Erfahrungsberichte von Augenzeuginnen der Ersteinführung des Eau Impériale hingegen dürften ebenso erflunkert sein wie die Geschichte des Hauses Creed. Also: beim Lesen immer ein bisschen mitdenken, was von den Geschichten auch glaubwürdig ist und was womöglich erfunden.
Merke: Dufterfahrungen sind Lebenserfahrungen. Und die Zeit, die sonst alles wegfrisst (erst die aufgelegten Colognes, dann die EdTs und EdPs, dann die Performance-Monster und schließlich: ALLES) und ihr Gegenspieler, die Erinnerung, können hier bereichernd wirken. Gerade Berichte die von wechselnden Erfahrungen mit dem gleichen Duft über die Jahre hin erzählen, lese ich persönlich besonders gern. Das sind gewissermaßen fesselnde Action- oder Abenteuerfilme für Duftliebhaber. Da tut sich was, da passiert was.
BEICHTE: Ich schreibe das alles hier auch, weil ich ein schlechtes Gewissen habe. Gestern stand hier ein Blog, über ein mir entfallenes Neu-Parfum (evt. wars Jeremy-Frag?), der länglich auf 3 Normseiten dieses Bestellvorgang-Postmann-Auspack-Preis- und Marketing-Reflexions-Gedöns ausbreitete und zum Duft nur 5 Zeilen bot, die behaupten, dieser entspreche der angegebenen Duftpyramide (ich übertreibe nicht, die Gewichtung war so!). Als dritter oder vierter Antwortender schrieb ich dann (etwas verbittert, etwas oberlehrerhaft und etwas irritiert, ob das denn ernst oder doch schon Parodie und Konzeptkunst war) in etwa folgendes:
„Für einen Erstblog finde ich den Text gut. Aber versuch doch nächstes Mal die wichtigen Dinge genauer zu beschreiben: Wie oft klingelte der Postmann, wie viele Luftbläschen zählte die Verpackungsfolie, wie schätzt Du das Vermarktungspotenzial im hinteren Mittelkaukasus und bei 62 Jährigen im Obersauerland ein? Und verschwende nicht so viele Zeilen mit der Duftanalyse, hier lesen doch Kenner, die wissen das schon alles. Oder war das nun eine Persiflage??“
Als ich abends nachsehen wollte, wie sich die Mitleser zu diesem Blog verhielten – und eventuell auch anwesende Sozialarbeiter zu meiner womöglich zu ruppigen Pädagogik – da war der Blog verschwunden. Ich wollte eigentlich weder Anfänger von hier vertreiben (bin ja selber einer) und schon gar nicht wollte ich sensible Konzept-Künstler und Parodisten verstummen machen, sondern nur mal mitteilen, dass ich keine Horden von Postboten und Haufen von Verpackungsmaterialien und Marketingsstrategien in meinem überfüllten Oberstübchen aufnehmen möchte. Fazit: kommt bitte wieder – und schreibt halt ein bisschen fokussierter über das Wesentliche.
Als (schlechter) Protestant hab ich jetzt ein schlechtes Gewissen, als eifriger Parfumo-Leser ein wenig aber auch das gute Gefühl, den Hunderten von potentiellen Mitlesern eine weitere Verwundung von Seelenhaut und Verschwendung von Zeit durch Lieferkettenerlebnisse und Marketing-Etuden erspart zu haben.
„Entscheidend is inner Nase“, möchte ich hieraus ableiten, indem ich die Maxime von Fussball-Legende Adi Preisler („Entscheidend is aufm Platz) aneigne – und etwas erweitere. Was für einen lesenswerten Kommentar zählt, ist in der Nase und dann der (am besten: vergleichende!) Weg durch duft-, wie emotionsverarbeitende aber auch sprachverarbeitende Bereiche von Stamm-wie Großhirn: die möglichst anschauliche Darstellung von Sinneswahrnehmungen, Gefühlen und Assoziation beim Dufterlebnis. Drumherum gern kulturelle oder gesellschaftliche Einordnungen oder Alltags- und Lebensweltliches; auch die Reaktion von Kumpel Kevin, der anbetungswürdigen Schanelle oder Eurer lieben Omi auf euren neuesten Dufthammer sind als Wirkhinweise willkommen.
Hilfreich, motivierend und orientierend scheinen mir folgende Trainerweisheiten von Josef-Sepp Herberger (der Jean-Paul Guerlain des deutschen Fussballs): „Der Ball ist rund und ein Spiel dauert immer 90 Minuten“. Für Parfumo-Autoren: Ein Parfüm ist oft vielseitig, entzieht sich leicht und eine Vertestung sollte eher 9 Tage als 9 Minuten dauern! Und nochmals Herberger: „Der nächste Test ist immer der Schwerste“, will sagen: ein lesenswerter Kommentar beruht oft auch auf ein wenig Arbeit des Testens, Vergleichens, Nachdenkens und Schreibens – und auf dem Durchlesen und Polieren des Geschriebenen. Euren Lesern zuliebe! Und für die und deren Anerkennung wollt Ihr doch schreiben?
Es gibt da einen zum Klassiker avancierten Erstlingsfilm von Visconti (1943): Ossessione. Deutscher Titel (kein Scherz!): Wenn der Postmann zweimal klingelt. Von dem Film gibt es auch Reformulierungen oder neue Batches (mit Jack Nicholson und so). Seht Euch die mal an. Wie der junge Landstreicher dort die (leider verheiratete) Tankstellenbesitzerin begehrt, und diese ihn…, irgendwie so ähnlich lieben Parfumos die Düfte. Und darüber hinaus, als Garnitur, jenes Drumherum, das Parfums und Colognes aufschließt und erklärt, und dessen Lektüre Dufterlebnisse zu intensivieren und zu bereichern vermag.
Anschaulich wird diese Konzentration auf das Wichtigste, welches im Zentrum und warum nicht schon am Anfang eines informativen Kommentars stehen sollte (jedenfalls möchte ich da keine Postleute mehr sehen!), am Schluss der Hymne der Gerlinisten. Der stets lesenswerte Parfumhistoriker und Parfumphilologe FvSpee (hier wohlbekannt und mein Lieblingsjesuit) hat dieses Lied in erst jüngst zugänglich gemachten ostdeutschen Archiven ausgegraben:
„Denn aus Gerlinschem Geist / Ward von Wasser geschweißt / Das Parfüm, das Parfüm, das Parfüm!“
Dreimal „Parfum“ ! Und keine Verpackung, kein Postbote, kein Marketing, so lautet in diesem Gemeindelied der reformierten Freikirche Gerlins, die markant formulierte Botschaft, die ich hier allen ans Herz (hilfreicher noch: neben die Computertastatur!) legen möchte.
Die surrealistische Metapher „Ward von Wasser geschweißt“ könnt ihr so verstehen, dass sowohl die Parfümeure, wie auch wir Parfumschreiberlinge, alle nur mit Wasser (Essenzen beziehungsweise Worten) kochen. Aber dieses Wasser will eben „geschweißt“ werden, das heißt: bearbeitet und kom-poniert; zu einem neuen, duftenden oder lesenswerten Ganzen zusammengefügt.
Eure Wortergüsse sollen also nicht einfach so, ungekocht/ungeschweißt, ausgeschüttet (oder: rausgekotzt) werden. Schmeißt Postboten und Verpackungsmüll aus Euren Kommentaren, bitte! Denkt ein bisschen an Eure Leser, und nicht nur an Eure privaten (Kauf- und Duft-) Erlebnisse. Hilfreich dafür könnte sein, nicht so oft ‚ich‘ zu sagen - findet Euer Herr Teste, heute Mal in seiner Trainingsjacke als Oberlehrer.
NACHTRAG: Nachdem mein Parfumo-Account zwei Stunden nach Hochladen dieses Blogs, bevor ich diesen nochmals online polieren konnte, für 10 Tage (trotz dreier freundlicher, zeitnaher Nachfragen & Erklärungen meinerseits) ohne jegliche Begründung vom anonymen Administrator gesperrt wurde (vom 21.5.2020, 18h bis 31.5.2020-18h), habe ich diesen Blog, erzwungenermaßen verspätet, nochmals poliert. Und füge folgende Antwort auf Eure Antworten hinzu:
Dank an alle für Euer Feedback: Ich lerne gern.
Spezialdank an die Lobenden: ich übe & schreibe weiter.
Nachfragen an die Kritiker:
Welches meiner 9 Themen gilt hier als ruhestörend & Tabu: Textanfänge - Postleute – Verpackungen - Preise - Läden – Guerlains – Lehmann - Schreibreflexion & Textpolitur??
Auf welche Darstellungs-Mittel reagiert ihr allergisch? Phantasie, Witz, Bildung, Sprachspiel, Abschweifung, Ironie, Merksätze, Stil, Rhythmus?
Antworten darauf fände ich sachdienlich. Denn die Sache um die es mir geht, ist nicht Angriff auf Personen, sondern der Wunsch nach originelleren, abwechslungsreicheren Texten! Also: Nicht Schreiben eng am Regelbuch, hingegen ein wenig Textreflexion.