Liebe geht durch die Nase - Kleiner Leitfaden für einen duftigen Abend in mondäner Gesellschaft

Für die Gazette "Le Journal" No. 4 der "Boheme Sauvage" verfassten verfassten Marie de Winter und Ferdinand Sturm von der "Redaktion WinterSturm" einen hochkarätigen Artikel über die Parfumgeschichte zwischen 1880 und 1930. Wir freuen uns, ihn auch hier veröffentlichen zu dürfen!



Liebe geht durch die Nase - Kleiner Leitfaden für einen duftigen Abend in mondäner Gesellschaft


Paris, 6. April 1919. Auf der Suche nach einem neuen Teeservice betritt ein großgewachsener Mann ein magasin de porcelaine. Seinem üppigen Bart entströmt ein intensiver Duft, der eine hinter ihm eintretende Dame innehalten lässt: Woher kennt sie nur dieses Parfum? Richtig, der letzte Liebhaber ihrer seit einiger Zeit spurlos verschwundenen Schwester hatte sich stets in eben jenen Duft gehüllt. Kurzerhand verlässt sie das Geschäft und vertraut sich an der nächsten Straßenecke zwei gelangweilten Gendarmen an. Diese fassen sich ein Herz und verhaften den großen Bärtigen beim Verlassen des Geschäfts. Zu Recht, denn Henri Landru, von Volkes Mund der „Blaubart von Paris“ genannt, hatte elf Frauen auf heimtückische Weise ermordet, zerstückelt und verbrannt! Und verraten hatte ihn „Mouchoir de Monsieur“, eine extravagante création aus Blüten- und Kräuteressenzen des berühmten Parfümeurs Jacques Guerlain aus dem Jahre 1904. Hätte sich Landru an die Gepflogenheiten der damaligen Männerwelt gehalten, ausschließlich nach Seife oder bestenfalls einem frischen Eau de Cologne zu riechen, wäre er womöglich weiterhin unentdeckt geblieben.

Diese makabre Anekdote zeigt, dass die Bestäubung mit üppigem Wohlgeruch noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts überwiegend der Damenwelt vorbehalten war. Der parfümierte Mann galt als weibisch und verweichlicht. Dabei hatte doch ausgerechnet ein Herrenparfum bereits im Jahre 1882 für eine Sternstunde am Firmament der Parfümerie gesorgt: „Fougère Royale“ aus dem Hause Houbigant, dessen Hauptbestandteil erstmals ein vollsynthetischer Stoff namens Kumarin war. Als das älteste seit 1889 durchgehend hergestellte Parfum der Welt gilt „Jicky“ von Jacques Guerlains Onkel Aimé, welches neben Kumarin auch chemisch hergestelltes Heliotropin und Vanillin enthält.

Der Einzug der organischen Chemie in die verheißungsvolle Welt der Parfümerie war damit nicht mehr aufzuhalten, eröffnete sie doch völlig neue Freiheiten, die Grenzen des Natürlichen zu sprengen. Doch auch die „Revolution der Düfte“ brauchte ihre Zeit, bis die modernen Kreationen die Connaisseure zu verzücken vermochten. Zunächst wurden diese phantasmagorischen Parfums mit den selben Argumenten abgelehnt wie die flirrenden Bilder impressionistischer Maler, die ebenfalls den sinnlichen Eindruck vor die Abbildung der Wirklichkeit stellten. Drum blieben auch die der Nase vertrauten Blumenbouquets bis zum ersten Weltkrieg die beliebteste Duftfamilie, wenn auch in ihrer Opulenz unauffällig mit synthetischer Unterstützung gesteigert – wie das überaus erfolgreiche „Quelques Fleurs“ von Houbigant (1912) veranschaulicht.

Wer von Ihnen nun die Verwendung künstlicher Duftstoffe verteufeln sollte, der halte sich einmal vor Augen, dass par example ein Kilogramm Jasminblütenextrakt aus handgepflückten Blüten das dreitausendfache seines synthetischen Äquivalents kostete. So ermöglichte erst der wissenschaftliche Fortschritt am Fin de Siècle der Sekretärin aus der Dachmansarde, trotz kleinen Portemonnaies wie eine orientalische Königin duften zu dürfen, wenn sie sich ein paar Tröpflein „Shalimar“ (Guerlain, 1925) hinters Ohr tupfte.

Und damit, sehr verehrte Damen und Herren, Vorhang auf für die wohl kreativste Dekade der Parfumgeschichte:

Die goooldenen, eeextravaganten Zwaaanziger Jaaahre!!!

Der wilde Geist der Bohème Sauvage drückt auch den Duftkreationen seinen Stempel auf und gebiert eine nie dagewesene Vielfalt an olfaktorischen Verführungen. Mit „Mitsouko“ hatte Jacques Guerlain bereits 1919 das Tor in eine hellere und freundlichere Nachkriegswelt weit aufgestoßen - einem von der allgemeinen Begeisterung für den fernen Osten inspirierter, phantasievoller Pfirsichduft, dessen japanischer Name „Kind des Lichtes“ bedeutet.

1921 tritt dann das berühmteste Parfum aller Zeiten ins Rampenlicht: „Chanel No. 5“. Zu jener Zeit ist es noch ungewöhnlich, dass eine Modeschöpferin einen Parfum-Kreateur beauftragt, einen zu ihrer Kollektion passenden Duft zu entwickeln. Ungewöhnlich ist auch der schlichte, quadratische Flakon in grauer Pappschachtel. Noch ungewöhnlicher ist der Name: Bei der Präsentation seiner Kreationen baut Parfümeur Ernest Beau einige Proben vor Coco Chanel auf. Madame wählt entzückt das 5. der Reihe - und schreibt damit Weltgeschichte!

Für Chanels minimalistische Handschrift bei Duft und Couture ist allerdings nicht jede Dame zu begeistern. Der Hunger nach Ausschweifung bricht sich in verheißungsvollen Schöpfungen wie „Dans la nuit“ (Worth, 1924), „Trance“ (Schwarzlose, 1925) und „Adieu Sagesse“ („Auf Wiedersehen Weisheit“, Patou, 1925) bahn. Auch die exotischen Einflüsse des Orients auf Zeitgeist und Mode spiegeln sich in der Kreativität der Parfümeure wider. 1925 lanciert Jacques Guerlain das schon erwähnte opulente „Shalimar“, benannt nach dem Garten, den der Legende nach ein indischer Großmogul für die Schönste seiner Frauen gestalten ließ. Eine mélange aus Sandelholz, Ambra, Moschus und Zibet lassen die Trägerin wie einen Geist aus der Flasche in ferne Länder entschweben...

Der parfümierte Mann hingegen kann dank der kreativen Vielfalt der Duftschöpfungen nun endlich seine Kernigkeit zelebrieren - und wäre damit wohl dem Schicksal des blumenduftenden „Blaubarts von Paris“ entgangen. Erdig-holzige („Horizon“, Oriza L. Legrand, 1925) und ledrig-würzige Duftnoten („Knize 10“, Knize, 1925) versetzen die Damenwelt in Verzückung. Auch die zunehmende weibliche Selbstbestimmung in den années folles inspiriert die Parfümeure. 1929 kündigt Patou einen neuen Duft mit dem Slogan an: „Für die Frau, die das Freie liebt, die raucht, Golf spielt und einen Wagen mit 120 km/h fährt!“

Und damit schließen wir den Kreis unserer - wie wir hoffen - kurzweiligen geschichtlichen Betrachtung. Nun fragen Sie sich vermutlich: Dufte ich wahrhaftig wie jene mutigen Pariserinnen und Pariser, die 1889 zur Eröffnung des Eiffelturms auf die Weltausstellung strömten, wenn ich mich anno 2017 mit Guerlains „Jicky“ bestäube? Nüchtern betrachtet vermutlich nicht, denn selbst die Formeln von Düften, die heute noch annoncieren, nach Originalrezepturen hergestellt zu werden, müssen sich geltenden Gesetzen und Richtlinien - wie unter anderem des Allergikerschutzes - beugen. Aber wer betrachtet die wundervolle Welt der berauschenden Düfte schon nüchtern? Freuen wir uns doch, dass nicht wenige Parfum-Kreateure all ihre Inspiration sprühen lassen, um den Geist des Fin de Siècle und der Wilden Zwanziger wieder aufleben zu lassen!

Das traditionsreiche französische Haus „Oriza L. Legrand“ beispielsweise schloss zwar im Jahre 1940 seine Pforten. Seit 2013 sind jedoch viele, zum Großteil über einhundert Jahre alte Parfums wieder käuflich zu erwerben. Die Berliner Duftkünstler von „Schwarzlose“ gehen einen anderen Weg und interpretieren Klassiker des Hauses wie „Treffpunkt 8 Uhr“ (1900) oder das schon genannte „Trance“ (1925) auf zeitgemäße Weise neu.

Vielleicht erfreut es Sie gar zu erfahren, dass sämtliche Parfums, die hier Erwähnung finden, zumindest unter ihrem originalen Namen heute noch zu erstehen sind? Ja? Sie sind also bereits in Hut und Mantel, um noch schnell einen passenden Duft zu ergattern? ACHTUNG!!! Wir müssen Sie aus eigener Erfahrung vor der Suchtgefahr warnen, die das Betreten des ein oder anderen verführerisch glitzernden Parfumtempels unserer Metropolen mit sich bringt. Leicht könnten Sie sich selbstvergessen im Duftrausch verlieren und bei der nächsten mondänen Gesellschaft verspäten!

Jetzt hoffen Sie womöglich, en passant von uns zu erfahren, welche Düfte wir selbst auserwählen, wenn wir uns ins Nachtleben stürzen? Quel malheur, dieses Mysterium geben wir nicht preis! Begeben Sie sich selbst auf die Reise, aber nehmen Sie sich Zeit, denn das Schöne ist nicht im Vorbeigehen zu erhaschen. Wenn Sie Ihren persönlichen Nasenschmaus gefunden haben, halten auch Sie dessen Identität trotz möglicherweise schmeichelnder Komplimente anderer Salongäste tunlichst geheim! Oder legen Sie Wert darauf, dass demnächst die halbe mondäne Gesellschaft den selben Traumduft verströmt wie Sie selbst?

Sollten Sie allerdings eine der neugierigen Personen überaus reizend finden, dann schlagen wir eine galante Antwort dieser Art vor: „Bitte dringen Sie nicht weiter in mich, Sie werden mir mein kleines Geheimnis nicht zu entlocken vermögen. Aber wenn Sie geneigt wären, mich zu einem Drink einzuladen, Monsieur (sich von mir zu einem Drink einladen zu lassen, Mademoiselle), dann erlaube ich Ihnen vielleicht, zu späterer Stunde ein wenig näher an mir zu schnuppern...“.

Denn mitnichten geht die Liebe durch den Magen… Sie geht durch die Nase!

37 Antworten
ParforgieParforgie vor 5 Jahren
Der Sinn der Aromen ist mit synthetischen Ölen leider flöten gegangen. Auch wenn es genauso duftet, hat es durchaus nicht dieselbe Wirkung. Schade.
WhinkWhink vor 6 Jahren
Sehr spannend! Und toll mit der Verlinkung – das macht die Sache noch spannender, weil man den einzelnen Düften dann nachgehen kann. Danke!!
DuftsuchtDuftsucht vor 7 Jahren
Toller Artikel - danke dafür!
EvitaEvita vor 8 Jahren
Großatig! Danke, für die schöne Geschichte.
RobGordonRobGordon vor 8 Jahren
Tolle Lektüre, danke!
FittleworthFittleworth vor 8 Jahren
Wunderbarer Artikel! Danke dafür!
CouchlockCouchlock vor 8 Jahren
vielen lieben dank! sehr gerne gelesen!
LUILUI vor 8 Jahren
Sehr interessant ;-)
LandlordLandlord vor 8 Jahren
Liebe Parfumos! Habt herzlichen Dank für die vielen Kommentare zu unserem Artikel. Wir freuen uns sehr über die unerwartet große Resonanz! Liebe Grüße
ViRa11ViRa11 vor 8 Jahren
Klasse geschrieben, vielen Dank! Wie Weihnachten am 2. Advent.
SonjoschkaSonjoschka vor 8 Jahren
Habe es gerne gelesen, kurz und amüsant. Danke euch dafür.
MokkaMokka vor 8 Jahren
Federleicht und doch spannend. Merci!
KashmirKashmir vor 8 Jahren
Sehr unterhaltsam geschrieben und ein spannender Einblick in die damalige Duftzeit. Vielen dank
ParmaParma vor 8 Jahren
Toll geschriebener, stilvoller, feiner und unterhaltsam informativer Artikel. Eine richtig runde Sache :) Vielen Dank!!
KingLuiKingLui vor 8 Jahren
So ein schöner Artikel. Den habe ich richtig gern gelesen. Informativ und unterhaltsam, so sollte es immer sein! Danke für die Bereicherung.
DerTesterDerTester vor 8 Jahren
Na dann erzählt doch mal @Catch22 und Anosmia.
AnosmiaAnosmia vor 8 Jahren
Stimme Catch22 vollkommen zu. Insbesondere im Bezug auf Geschlechterrollen. Die 20er hatten da schon mehr zu bieten als die gängige Klischee-Vorstellung von der flotten, Perlenketten tragenden Frau und dem dazugehörigen Gentleman. Und allem Geklage über Duft-Einheitsbrei zum Trotz glaube ich, dass wir aktuell die kreativste Phase der Parfum-Geschichte erleben.
Sublim22Sublim22 vor 8 Jahren
Sehr, sehr schön, chapeau!
VerbenaVerbena vor 8 Jahren
Großartig und überaus informativ. Danke.
CafenoirCafenoir vor 8 Jahren
Wenn dem der Vorredner nichts mehr hinzuzufügen ist, drücke ich für gewöhnlich eher nur noch den Button, aber das muss jetzt trotzdem auch von mir noch mal sein : großartig!
SonnenfeeSonnenfee vor 8 Jahren
Herrlich! Mit Vergnügen gelesen, und - Ihr habt ein wundervolles Hobby mit Boheme Sauvage :))
AchillesAchilles vor 8 Jahren
Wundervoll! Ich gehe gerne mal auf die Berliner Boheme Sauvage :)
DarkduftDarkduft vor 8 Jahren
Parfümgeschichte herrlich kurzweilig und informativ in Worte gefasst.Besten Dank für Eure Mühe!
GschpusiGschpusi vor 8 Jahren
Wunderbar.... Ich bin begeistert
SkjomiSkjomi vor 8 Jahren
Amüsant zu lesender Ausflug in die Parfümgeschichte, vielen Dank!
LaPushforksLaPushforks vor 8 Jahren
Sehr interessanter Artikel! Habt vielen Dank:)
SeeroseSeerose vor 8 Jahren
"Die Goldenen Zwanziger", aus der Sicht jener schönen und - oft vorübergehend Reichen - Menschen beschrieben ließen mich sofort an "The Great Gatsby" denken. Man erlaubte sich in bestimmten Kreises alles intensiv und extensiv, vermutlich ahnend oder auch wissend, dass es nur vorübergehend und kurz sein würde. Und doch hat noch so viel davon bis in diese Zeit überdauert, nicht nur Parfüm.
RivegaucheRivegauche vor 8 Jahren
Oh, noch mehr eifrige Boheme Sauvage Gänger. Enchanté mit Grüßen aus Berlin :)
TurandotTurandot vor 8 Jahren
Parfumo bildet :) Nun musste ich doch erst mal recherchieren, was ich mir unter Boheme Sauvage genau vorzustellen habe. Ich lebe hier ja ein wenig in der Provinz. Interessant und sicher amüsant, diese Zeit aufleben zu lassen. Optisch sowieso. Trotzdem ist es sicher angenehmer, heute zu leben. Zumindest wenn ein Zahnarztbesuch ansteht oder eine längere Reise. Ich habe den Artikel sehr gerne gelesen und mag den Schreibstil!
ZoraZora vor 8 Jahren
Ein wundervoller und interessanter Beitrag und ein ganz tolles Foto dazu. Vielen Dank.
AltheaAlthea vor 8 Jahren
Danke für den schönen Artikel.
ErgoproxyErgoproxy vor 8 Jahren
Das habe ich mit Freude gelesen, vielen Dank!
AmunAmun vor 8 Jahren
Dankeschön! War ein Vergnügen zu lesen! :-)
JumiJumi vor 8 Jahren
Sehr schöner Exkurs in die Duftgeschichte! Gerne gelesen!
Naimie54Naimie54 vor 8 Jahren
Wunderbar, dieser Artikel. Schöne Schreibe.
AlliageAlliage vor 8 Jahren
Ach, wie schön. Es hat sehr viel Freude gemacht, diesen Artikel zu lesen. Schon die Art und Weise, wie Ihr Euch sprachlich ausdrückt - ich bin versetzt in eine nostalgische und romantische Stimmung :-)
Und ich bin neugierig auf die Düfte, die ich noch nicht kennenlernen durfte ...
Vielen Dank.
DonVanVlietDonVanVliet vor 8 Jahren
Habt vielen Dank für den großartigen Artikel!

Weitere Artikel von ParfumoBlog