Go tell aunt Rhody ...
Es ist soweit: Resident Evil geht in die siebte Runde. Dieses Spiel führt den mutigen Spieler in ein morbides Horrorhaus. Die dunklen Geheimnisse der Familie Baker gilt es zu ergründen. Für ganz hartgesottene ist dies das erste Horrorspiel, welches die VR-Brille (Virtual Reality) der PS4 unterstützt. Was hier serviert wird, ist wahrlich schwere Kost. Literweise strömt das Blut, unzählige Schockmomente lassen den Atem stocken und eine gruselige "Daueratmosphäre" hält den Puls stets hoch.
Doch was hat dies mit unserer gemeinsamen Leidenschaft, unserer unermesslichen Sucht nach Düften zu tun? Nun, um den Eindruck der virtuellen Realität zu verstärken, ließ sich der Hersteller ein besonderes Schmankerl einfallen. Eine Duftkerze soll das Thema des verrotteten, fauligen und mit Blut überströmten Szenario olfaktorisch interpretieren. Der Spieler soll komplett den Eindruck gewinnen, sich wirklich im Horrorhaus der Familie Baker zu befinden. Was Parfums freilich nicht wagen, darf also gnadenlos umgesetzt werden: „Der Duft von Entsetzen, Angst und Adrenalin.“ (laut Hersteller)
Der Gedanke, ein künstliches Szenario olfaktorisch zu bereichern, ist wiederum nicht sonderlich neu. Schon in den frühen 90ern durfte ich im „Jorvik Viking Centre“ in York diese Erfahrung machen. In einer Schwebebahn fuhr ich über ein rekonstruiertes Wikingerdorf und neben den visuellen Eindrücken roch tatsächlich der Viehstall nach Mist und die Schmiede nach Feuer. Trotzdem schaffte es dieser Gestank nicht, dass mir die „Museumslandschaft“ authentisch erschien. Dafür wirkten die Puppen, als auch die Konstruktionen , viel zu künstlich, steif und leblos.
Als Teil einer lebendigen virtuellen Welt wirkt ein Duftstoff jedoch deutlich extremer. Vielleicht ist der olfaktorische Einfluss dann sogar in der Lage, die letzte Grenze zwischen Phantasie und Wirklichkeit aufzulösen. Die psychischen Gefahren, die darin liegen – besonders durch die Abschottung der VR-Brille – möchte ich nicht beurteilen. Mir geht es in diesem Beitrag einzig um die Duftkerze.
In einer verschließbaren Dose befindet sich das parfümierte Wachs (natürlich blutrot gefärbt). Zuerst versuche ich alle Assoziationen zu verdrängen und den Duft neutral zu analysieren. Besonders ekelhaft riecht er nicht. Eigentlich zeigt sich hauptsächlich eine Mischung aus Patschuli und dem salzigen Bestandteil aquatischer Parfums. Doch jetzt darf das große Kopfkino beginnen. Ich schließe meine Augen und inhaliere den Duft tief ein. Verdammt, ich kenne den Geruch!
Die Duftkerze vermittelt mir Unbehagen und entführt mich in das Haus eines früheren Schulkameraden. Seine Eltern besaßen einen betagten Bauernhof mit Plumpsklo und Mistkaut (ein Platz, an dem der Hühnerdreck, Stroh und Küchenabfälle gammelten). Obwohl seine Mutter damals schon fast sechzig Jahre alt war, wirkte sie dennoch sehr agil und führte lebhaft das Regiment. Doch nur noch wenige Wingerte (= Ländereien mit Weinreben) wurden von der Familie bewirtschaftet, da der Vater fast erblindete. Außerdem kümmerten sie sich sehr zeitintensiv um die Großmutter, die täglich - ausgemergelt und apathisch - auf einem Küchenstuhl saß. Für die Pflege des ruinösen Hofs gab es keine Zeit und vermutlich fehlten auch die finanziellen Mittel.
Zur Weinlese half ich deshalb gerne aus und übernachtete dann auch, da wir bis zum Einbruch der Dämmerung arbeiteten, in dem uralten Haus. Ich schlief in einem ausgebauten Zimmer unter dem Dachgiebel. Im Nebenraum lagerten Bratwürste, die zum Trocknen am Giebel aufgehängt wurden. Das Gebälk roch modrig, das Fleisch salzig. Es war ein schwerer und unangenehmer Geruch; nahe an der Grenze zum Gestank. Exakt so riecht diese Kerze. Wer immer diesen Duft entworfen hat, wusste ganz genau, wie alte Häuser, modriges Holz und trockenes Fleisch riecht.
Von meiner realen Erfahrung im maroden Bauernhaus ist es nur ein kleiner gedanklicher Schritt zum virtuellen Anwesen der Familie Baker. Sowohl visuell, als auch olfaktorisch überzeugt das Szenario. Selbst die Parallelen der Charaktere (Vater, Mutter, Sohn und die sonderbare Tante - Rhody? - eine alte Frau, die geistesabwesend im Rollstuhl sitzt) erschrecken mich und erzeugen die schönste Gänsehaut, die ich je hatte. Entsprechend dem Titelsong von Resident Evil 7 flüstere ich abschließend der geneigten Leserin oder dem geneigten Leser, starr vor Schreck, entgegen: „Go tell aunt Rhody ... that ... the … scent ... is … real!“