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Schahrams Blog
vor 6 Jahren - 01.08.2018
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Was Parfumo in einer schweren Zeit vermag

Auch wenn das Alsterhaus, das fast vor meiner Haustür steht, nach dem Umbau der Parfumabteilung deutlich attraktiver und vor allem im Nischenbereich vielfältiger geworden ist, bleibt meine Heimatstadt Berlin für mich das Duft-Eldorado schlechthin. Ich gehöre zu den Glücklichen, die frei über ihre Zeit verfügen können und so sind Duftausflüge per FlixBus nach Berlin etwas Wunderbares und seit ich regelmäßig mit zwei lieben Parfumas dort auf Erkundungstour gehe echte Highlights in meinem ansonsten recht beschaulichen Leben.

Als wir drei uns Anfang Mai trafen, übernachtete ich wie fast immer bei meinem Bruder in Berlin-Kaulsdorf. Er war gerade von einem Fahrradurlaub zurückgekehrt, die Rückfahrt ( 200 km in einem Rutsch ) war für ihn ein Klacks. Im Garten eines Italieners plauderten wir bei Pizza und Wein. Nichts deutete darauf hin, daß 3 Wochen später alles anders sein würde.

An einem Donnerstagabend Ende Mai rief er mich aus dem Krankenhaus an, wohin ihn der Hausarzt wegen Oberbauchschmerzen eingewiesen hatte. Freitag Mittag stand fest, daß er Lebermetastasen eines nicht auffindbaren Tumors hat. Als ich ihn am Dienstag besuchte, zeigte mir der Stationsarzt die CT-Bilder, die mich trafen wie ein Schock. Ich bin Ärztin, über 20 Jahre behandelte ich fast ausschließlich Patienten mit Krebserkrankungen. Da genügte ein Blick um zu wissen, daß mein 5 Jahre jüngerer einziger Bruder nicht die kleinste Chance hatte, zu überleben.

Mir stand der Sinn nicht mehr nach der eigentlich für den Mittwoch eingeplanten Duftsafari, ich wollte nur noch nach Hause. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß Düfte mir in dieser Situation noch irgend etwas bedeuten könnten und doch sollte es anders kommen.

In den folgenden Wochen war ich nur selten zu Hause und mehr in Berlin. Obwohl meine Schwägerin, die 3 Söhne meines Bruders und aus der Ferne mein Mann und meine Tochter alles taten, was ihnen möglich war, blieb für mich ein großer Packen zu tragen. Kommunikation mit Ärzten, Krankenkasse, Rentenversicherung, Pflegedienst, Apotheke und nicht zuletzt die Organisation des Alltags. Mein Bruder, der den Haushalt geschmissen, eingekauft und gekocht hatte war dazu nicht mehr in der Lage. Trotzdem hat er bis fast zuletzt verzweifelt versucht, seinen Part zum Funktionieren der kleinen Schicksalsgemeinschaft, die wir wohl waren, beizutragen.

Meine Schwägerin betreibt zusammen mit meinem Bruder eine Kindertagespflege mit 9 Kindern von 2 bis 6 Jahren im eigenen Haus. In den ersten 2 Wochen nach der Diagnose war sie krankgeschrieben, weil sie nicht essen und kaum schlafen konnte. Danach arbeitete sie bis zum Ferienbeginn weiter, um die Eltern nicht im Regen stehen zu lassen, denn von jetzt auf gleich einen Ersatzkindergartenplatz zu bekommen, gelang auch dem Sozialamt nicht. Ich habe allergrößte Hochachtung vor dieser Leistung meiner Schwägerin, die in der schwersten Krise ihres Lebens weiterhin für andere Menschen da war.

So waren meine Tage und in den letzten Wochen auch die Nächte sehr ausgefüllt und es blieb wenig Zeit, durchzuatmen und an mich zu denken. Nie hätte ich gedacht, daß mir Parfumo helfen könnte, meine Kräfte zu regenerieren. Und doch war es so. Ich begann, wieder in die City zu fahren und konnte im KaDeWe und anderswo wirklich für kurze Zeit meinen Kummer beiseite schieben. Meine Berliner Lieblingsparfuma machte ein Treffen möglich und das obwohl sie wußte, daß es kaum ein anderes Thema geben würde als meinen Bruder. In meinem Berufsalltag habe ich sehr oft erlebt, daß sich Angehörige und Freunde von Krebskranken zurückziehen, meist aufgrund eigener unbewusster Ängste. Die liebe S. tat das nicht, ganz im Gegenteil und obwohl sie selbst vor nicht so langer Zeit eine Krebserkrankung hinter sich gebracht hatte. Das ist für mich wirkliche menschliche Größe und Zuwendung.

Einigen mir lieben und inzwischen recht gut bekannte Parfumas hatte ich geschrieben, welche Katastrophe sich abspielte und ich bekam so viel Mut zugesprochen, soviel praktische Hilfe, Gesprächsangebote und Beistand, wie ich es niemals erwartet hätte. Ich habe mich inzwischen bei ihnen bedankt und hoffe, daß ich niemanden vergessen habe. Falls doch, bitte verzeiht mir. Ich hole es hiermit nach.

Im Gegensatz zu diesen "virtuellen" Freunden zogen sich einige Menschen, die ich im realen Leben zu meinen Freunden gezählt hatte, bis heute völlig zurück, obwohl ich sie in den ersten Tagen dieser schlimmen Wochen um Rat gefragt hatte. Darunter Arztkollegen, mit denen ich vor 40 Jahren zusammen studiert hatte. Inzwischen sind das für mich die "Schönwetterfreunde" und ich habe erfahren, wie eine persönliche Krise eine Klärung privater Beziehungen herbeiführen kann. Ich bin froh darüber, es macht mein Leben einfacher.

Mein Bruder ist mit 55 Jahren am 21.7. verstorben. Zu Hause, in Würde. Von der Diagnose bis zu seinem Tod blieben ihm genau 60 Tage. Nach dem Tod meiner Mutter im vergangenen Jahr bin ich nun die letzte, die von der kleinen Familie übrig geblieben ist. Manchmal fühle ich mich wie ein Baum ohne Wurzeln, der derzeit überwiegend von den umstehenden Bäumen aufrecht gehalten wird.

Daß zu diesen Bäumen nicht nur meine Familie, sondern auch einige Parfumas gehören, ist etwas ganz Besonderes, was es vielleicht nur in dieser Community gibt. Hier Menschen gefunden zu haben, die nicht nur in guten Zeiten und zu ihrem Vergnügen hier sind, macht mich wirklich dankbar und froh. Dieses Gefühl wollte ich mit Euch teilen und habe deshalb nach tagelangem Überlegen, ob ich diesen Blog schreiben solle, Mut gefaßt und es getan. Noch kann ich nicht weinen, aber irgendwann werde ich es können und ich weiß, daß es auch dann Parfumas geben wird, die mir beistehen werden.

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