Simetra
Simetras Blog
vor 8 Jahren - 04.12.2015
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Ein Nikolaus

Diese kleine Nikolausgeschichte habe ich 2007 geschrieben. Gern teile ich sie hier im Parfumblog mit Euch, auch wenn sie nichts mit Parfums zu tun hat:


In der Stadt nannten sie es schlicht nur »das Quartier«, obwohl es durchaus einen eigenen Namen hatte. Heruntergekommene, backsteinerne Häuser standen dicht an dicht. In den Vorgärten stapelte sich Unrat, genauso wie wohl die Rechnungen auf den billigen Schreibtischen in den winzigen Zimmern, die sich hinter den schmutzigen Fensterscheiben und den vergilbten, zerschlissenen Vorhängen verbargen. Ab und zu bellte ein Hund, niemand plauderte auf der Strasse, und die wenigen Autos, die in den Auffahrten standen, hatten alle eine ähnlich abgeschossene, unauffällige Farbe. Als ob sich die Fahrzeuge ihres Daseins schämen würden.

Nein, niemand kam gerne in das Quartier – und schon gar nicht freiwillig.

Hinter einer der Fensterscheiben dieser Strassen, auf einem braun lackierten Fensterbrett, stand ein kleiner Junge und starrte nach draussen. Jenseits seiner Zimmertür hörte er das geschäftige Klappern, das seine Mutter in der Küche veranstaltete.

Es war der sechste Dezember.

Doch der Nikolaus würde ihm auch in diesem Jahr kein richtiges Geschenk bringen, höchstens einen warmen, handgestrickten Pullover oder vielleicht eine neue Mütze. Der Junge verzog das Gesicht, als er an all die selbstgestrickten Anziehsachen dachte, die sich schon in seinem Kleiderschrank stapelten und für die er sich in der Schule so sehr schämte. Hätten doch seine Eltern mehr Geld, hätte nur sein Vater einen richtigen Job...

Eine einzelne Träne rann dem Jungen über die Wange. Er blies mit seiner Atemluft kleine runde Nebel aus Kondenswasser an die Scheibe und zeichnete mit seinem Zeigefinger Figuren, die alsbald, seiner Träne gleich, wieder zerrannen.

Plopp!

Erschrocken wirbelte der Junge herum, um zu schauen, woher das Geräusch kommen mochte. Doch er konnte nichts sehen. Mit klopfendem Herzen wandte er sich wieder dem Fenster zu und redete sich ein, sich das Geräusch wohl nur eingebildet zu haben.

»Hm-gmh!«

Da räusperte sich jemand! Und jetzt fiel der Blick des Jungen auf einen kleinen Nikolaus, der auf dem Fensterbrett stand und munter lächelnd zu ihm heraufwinkte.

Mit einem Satz sprang der Junge rückwärts, bis in die Mitte des Zimmers, und blieb dann bocksteif stehen, die Augen weit aufgerissen voller Erstaunen.

»Hallo, ich bin es, der Nikolaus!«

Der Junge glaubte, nicht richtig gehört zu haben – sprach da tatsächlich ein kleiner Spielzeugnikolaus zu ihm?! Skeptisch blickte der Junge über die Schulter, überzeugt, jeden Moment von seinen Eltern dabei ertappt zu werden, wie er mit seinem Spielzeug Gespräche führte.

»Ähm... hallo Nikolaus... Ich... äh...«

»Ach, du brauchst nicht zu erklären. Die meisten Menschen sind erstaunt, wenn sie mich zum ersten Mal sehen. Sie glauben nämlich alle, dass der Nikolaus viel grösser ist, so gross wie ein Mensch«, sprach das rotgewandete Männchen, und strich sich dabei über seinen langen Bart, »doch wie du siehst, bin ich viel kleiner.«

Das stimmte. Der Nikolaus war kaum grösser als der Daumen eines erwachsenen Mannes. Deshalb war auch seine Stimme gar nicht brummig und tief, wie man es vielleicht von einem Nikolaus erwarten würde. Sie klang eher wie die Stimme von Micky Maus, mit dem Unterschied, dass der Nikolaus viel langsamer und bedächtiger sprach.

»Nun«, fuhr er fort, »wie ich sehe, hast du geweint. Warum?«

»Ach, weisst Du, heute ist doch der Nikolaustag, und ich hätte so gerne ein richtiges Geschenk.«

»Aaah...«, erwiderte der Nikolaus, »nun, das lässt sich schon machen. Ich bin gerade dabei, die Geschenke zu verteilen. Vielleicht möchtest du mir dabei helfen?«

»Dir dabei helfen... jaaah, warum eigentlich nicht.«

Sanft wurde die Türklinke nach unten gedrückt, und seine Mutter steckte ihren Kopf ins Zimmer.

»Schätzchen, mit wem sprichst du denn da?«

»Mit niemandem, Mama.«

»In fünf Minuten gibt es Abendbrot«, fügte die Mutter hinzu und schloss die Tür hinter sich.

Der Junge drehte sich um. Fast glaubte – nein, eigentlich hoffte er gar, der Nikolaus sei gar nie dagewesen und alles sei nur ein Traum. Doch nein, da war er: Klein, dick und vergnügt lachte der Nikolaus ihn an, nun sass er und liess seine in schwarzen Stiefeln steckenden Beinchen in der Luft hin- und herschlenkern. Der Junge senkte die Stimme und flüsterte: »Du hast es gehört, es gibt gleich Abendbrot.«

»Keine Sorge, wir werden zurück sein, ehe überhaupt jemand bemerkt, dass du fort bist! Wir Nikoläuse können die Zeit anhalten!«

»Ihr Nikoläuse? Du meinst, es gibt nicht nur einen Nikolaus?«

Das kleine dicke Männchen prustete vor Lachen: »Wie soll den ein einzelner Nikolaus in der ganzen Welt alle Wünsche entgegennehmen und die Kinder beschenken? Ich zum Beispiel bin nur zuständig für diese Stadt.«

Er bedeutete dem Jungen, sich zu ihm runterzubeugen, und raunte ihm zu: »Wir machen die Menschen bloss glauben, dass es nur einen Nikolaus gibt. So ist es spannender. Die Erwachsenen machen wir glauben, dass es uns gar nicht gibt, keinen von uns.«

Der Junge kam nicht mehr aus dem Staunen hinaus.

»Nun komm – es ist Zeit, auf den Schlitten zu steigen.« Der Nikolaus deutete auf einen kleinen Schlitten, nur wenige Zentimeter gross, vor den sechs stolze kleine Rentiere gespannt waren.

»Aber wie soll denn das gehen, ich bin doch viel zu gross für diesen Schlitten?«

»Keine Sorge, das haben wir gleich. Öffne das Fenster einen spaltbreit und setz' dich aufs Fensterbrett!«

Der Junge tat, wie ihm geheissen, der Nikolaus trat an den Jungen heran und tippte ihn mit seinem winzigen rechten Zeigefinger drei Mal an.

Mit einem Plopp! schrumpfte der Junge zusammen und war nun selber nur knapp so gross wie der Nikolaus. Gebannt blickte er in seinem Kinderzimmer umher. Alles war plötzlich so gross geworden! Der Schrank kam ihm vor wie ein Berg, seine Spielzeugsoldaten schienen plötzlich zum Leben erwacht zu sein, und das Fensterbrett...

Schaudernd trat der Junge an den äussersten Rand des Fensterbretts und blickte zögernd in die Tiefe: Was ihm vorhin gerade mal bis zur Brust reichte, war nun eine Klippe, hoch über dem Boden, und die Kluft bis zu seinem Bett schien unüberwindbar.

Er wandte sich um und sah den Nikolaus: Gut zwei Köpfe grösser stand er neben ihm und lächelte ihn an.

»Komm«, winkte der Nikolaus, »ich helf' dir auf den Schlitten!«

Die Rentiere blickten sich neugierig zu ihrem neuen Fahrgast um. Erst jetzt bemerkte der Junge, wie gewaltig ihre Geweihe in Wirklichkeit waren.

Gemeinsam kletterten sie auf den Schlitten, auf dem ein riesiger Berg voller Geschenke darauf wartete, verteilt zu werden.

Wieder sank dem Jungen der Mut. So viele schöne Geschenke – und irgendwo darunter wartete wohl ein weiterer selbstgestrickter Schal darauf, von ihm ausgepackt zu werden.

Unter einem nun beeindruckend brummligen Hüüüh! setzten die Rentiere den Schlitten in Bewegung, und mit einem Ruck wurde das Gefährt mitsamt seiner Ladung in die Lüfte gehievt.

Der kleine Junge kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Voller Verwunderung blickte er umher. Sein Zimmerfenster, und dann das Haus, wurden klein und kleiner, bis selbst die Autos auf den Strassen wie Spielzeugautos erschienen.

»Nun«, begann der Nikolaus, »werden wir gemeinsam die Kinder dieser Stadt beschenken!«

Sie liessen die Strasse hinter sich, schliesslich das Quartier, und plötzlich verloren sie wieder an Höhe, über einem Gebiet der Stadt, das der Junge noch nie gesehen hatte.

Hier reihten sich elegante und schmucke Häuser aneinander, deren Vorgärten auch wie Gärten aussahen, und in deren Auffahrten blank geputzte Autos vor sich hin glänzten. Hier strich eine getigerte Katze um die Ecken, und an vielen Häusern blinkten Weihnachtsdekorationen.

»Pah!«, stiess der Nikolaus aus und zeigte auf einen kitschigen Weihnachtsmann in einem besonders hell beleuchteten Vorgarten, »sieh dir mal an, wie sie uns darstellen! Als ob wir wandelnde Lampen wären!«

Der Nikolaus schüttelte den Kopf und steuerte auf das Nebenhaus zu.

»Hier fangen wir an!«

Das Haus sah einladend aus, und die Küche war hell erleuchtet. Es schien, als wäre die Familie gerade beim Abendessen. Aus dem Kamin kam Rauch, und –

Rauch!

»Müssen wir jetzt da durchfliegen?«, fragte der Junge, und es wurde ihm bange bei dem Gedanken.

Der Nikolaus lachte: »Schon wieder so ein Märchen, das man sich über uns Nikoläuse erzählt! Wie sollen denn all die Kinder Geschenke bekommen, die in einem Haus ohne Kamin wohnen? Und was glaubst du denn, wie die Geschenke aussehen würden, wenn wir sie durch den Kamin hineinbringen würden? All die bunten Schleifen und Geschenkpapiere wären ja voller Russ. Von uns Nikoläusen ganz zu schweigen!«

»Aber... ääähm... wie kommen wir dann ins Haus?«

Der Nikolaus antwortete nicht sofort, da er sich auf die Landung konzentrieren musste. Nachdem der Schlitten sanft auf der Vordertreppe aufgesetzt hatte, fuhr er fort: »Mein lieber Junge. Ich dachte, du hättest gesehen, wie das geht.«

Er tippte den Schlitten mit seinem rechten Zeigefinger drei Mal an, es gab erneut ein Zischen – jedoch war es weniger laut als das vorhin –, und der Schlitten mitsamt den Rentieren, dem Nikolaus, dem Jungen und all den Geschenken war nochmals zusammengeschrumpft.

Der Junge sah sich fasziniert um. Im selben Moment musste er sich ducken, um einem Ahornblatt auszuweichen, das gerade in seine Richtung flog. Seine Augen weiteten sich: soeben kam eine riesige Ameise auf ihn zugelaufen!

Doch sie schien sich nicht für die weihnächtliche Fahrgemeinschaft zu interessieren und fuhr fort, nach Nahrung zu suchen.

»So, und jetzt passen wir ohne Probleme durch jedes Schlüsselloch!«, verkündete der Nikolaus ungerührt.

Gesagt, getan. Die Rentiere hoben sich erneut in die Lüfte und schwirrten auf das Schlüsselloch zu.

Der Junge zog seinen Kopf ein, er war sich sicher, jeden Moment den Kopf anzuschlagen... doch schon waren sie im Schlüsselloch, es roch nach Öl und Metall, und... flutsch! wurde es warm, und sie befanden sich im Haus.

Aus der Küche drangen Stimmen, es klang nach einem Streit.

Der Nikolaus steuerte den Schlitten ins Wohnzimmer, wo ein riesiger Weihnachtsbaum stand. Er war geschmückt mit wertvollen Kugeln und glitzerndem Lametta. Der Nikolaus wühlte im Geschenkeberg und zog fünf hübsch verpackte Präsente aus dem Haufen, legte sie unter den Baum und tippte jedes Geschenk mit seinem linken Zeigefinger sechs Mal an. Plopp! Plopp! Plopp! Plopp! Plopp! Plopp! Schon hatten die Päckchen ihre ursprüngliche Grösse angenommen – es waren ziemlich grosse Geschenke! – und warteten nun auf ihre Empfänger.

Beim Weg nach draussen hörte der Junge ein paar Wortfetzen, es klang wie »Du musst nächstes Mal ein besseres Zeugnis haben« und »Dein Vater und ich sind ziemlich enttäuscht!«.

Und so besuchten der Nikolaus und der Junge in dieser Nacht noch zahlreiche Häuser, in jedem wurden grosse und schwere Geschenke abgeliefert, und in jedem war die Einrichtung noch etwas erlesener, der Wagen im Vorgarten noch etwas grösser – und die Stimmung noch etwas schlechter.

Der Junge erfuhr in dieser Nacht von Kindern, die ihre Eltern schmerzlich vermissten, da sie kaum zu Hause waren. Von Kindern, die bereits schon die Kämpfe Erwachsener austrugen. Von Kindern, die krank waren. Von Kindern, die keine Kinder sein durften. Von Kindern, die auf Vater oder Mutter verzichten mussten, weil die Erwachsenen Streit miteinander hatten und nicht mehr miteinander leben wollten. Von Kindern, die zwar alles bekamen, was sie sich wünschten – nur keine Liebe.

Wieder zu Hause, landete der Schlitten mit einem leisen Kratzen auf dem Fensterbrett. Inzwischen war es im Zimmer recht kühl geworden. Der Nikolaus lächelte verschmitzt, tippte den Jungen wortlos mit seinem linken Zeigefinger an – genau sechs Mal – und plopp! nahm der Junge wieder seine richtige Grösse an.

Verwirrt blickte er sich im Zimmer um, es war ihm, als wäre er wochenlang fort gewesen. Alles schien so klein und doch so gross, so fremd und doch vertraut.

Aus der Küche noch immer das Klappern von Geschirr und Töpfen.

Der Junge holte Luft und wandte sich um – doch der Nikolaus war verschwunden, mitsamt dem Schlitten, den Geschenken und den sechs Rentieren.

Bevor der Junge entscheiden konnte, ob er das alles für einen Traum halten sollte, klopfte es leise an der Tür, und sie wurde einen spaltbreit geöffnet.

»Abendessen, mein Schatz!«

»Ich komme!«

Ganz offensichtlich hatte der Nikolaus Recht gehabt: Es waren tatsächlich nur fünf Minuten vergangen!

In der kleinen Küche sass die ganze Familie vereint und plauderte ausgelassen, man erzählte sich von den Ereignissen des Tages.

»Und, was hast du vorhin gespielt?«

»Ach, ich hab' nur mit dem Nikolaus gesprochen..«

Schmunzelnd erwiderte sein Vater: »Und, was hast Du Dir gewünscht?«

»Dass wir alle zusammenbleiben und gesund sind!«, platzte es ohne zu überlegen aus dem Jungen hinaus, und im selben Moment wusste er, dass dies die reine Wahrheit war, die da aus seinem Herzen sprach.

In der selben Nacht, nachdem er zu Bett gebracht wurde, drückte ein kleiner Junge im Quartier seinen neuen, selbstgestrickten Pulli voller Glück an sein Gesicht. Er roch vertraut nach dem Parfum seiner Mutter. Sein letzter Gedanke, bevor er in das Reich der Träume hinüberglitt, war, dass er im Grunde reich war.

© Simetra, 2007

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