Titania
Titanias Blog
vor 10 Jahren - 31.07.2014
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Geboren im Jahr 9 nach Shalimar

Morgen wird meine Mutter 80. Manchmal fragt man sie, welchen Duft sie grade trägt. Dann lächelt sie so entwaffnend wie entwaffnet und sagt: "Ach, das weiß ich gar nicht. Den hat meine Tochter mir geschenkt."

Vor knapp drei Monaten ist mein Vater gestorben. Nicht ein einziges Mal in seinem Leben trug er ein Parfum. Doch er verwendete jeden Morgen ein Rasierwasser, jeden Morgen das selbe. Soweit ich mich erinnere, ist es Hattric gewesen. Es könnte aber auch jedes andere gewesen sein, das so hätte heißen können.

Ich weiß nicht, ob der Geruchssinn meines Vaters besonders schwach ausgebildet war. Es waren wohl eher sämtliche seiner Sinne, auf die er sich lieber nicht verlassen wollte. Bei unseren Spaziergängen versuchte ich ihm zu beschreiben, wie die frisch gepflügte Erde roch oder der Raps auf dem Feld. "Wie heißt nochmal diese Pflanze", fagte er dann, um es im selben Augenblick wieder zu vergessen. Er hatte Alzheimer. Und er hat sich stets für vernünftig gehalten, für einen Kopfmenschen, bis zum Schluss, voller Zorn.

Meine Mutter indessen hat ihren eigenen Kopf. Sie weiß genau, was sie mag und was nicht - ganz überwiegend und abschließend hat sie das vor ungefähr 60 Jahren so entschieden, und das bleibt dann auch so. Wenn man daran noch etwas ändern möchte, muss man es ihr untermogeln, wie einem Kind. Einen Duft wie Shalimar würde sie nicht mögen, weil sie schwere Düfte nicht mag. Und an dieser Stelle gilt dann auch Untermogeln nicht. Wozu auch? Sie mag vieles und vieles nicht, ganz gleich wie namhaft, das entscheidet sie allein.

Mein Vater hat nicht eine einzige Entscheidung selbst und für sich allein getroffen.

Wenn unsere Eltern alt und krank werden, spätestens dann, verschwimmen die Grenzen zwischen Gedanke und Gefühl, zwischen Vater, Mutter, Kind, ziwschen Wollen und Können, zwischen Wissen und Verstehen, auch zwischen männlich und weiblich. Doch alles ist da, im selben Augenblick vorhanden, wie in einem Parfum, wenn es ein gutes Parfum ist. Wie in der Kunst, wenn es gute Kunst ist. Wie im Leben, wenn es ein gutes Leben ist.

Eine Deutungshoheit erkenne ich nicht an, denn ich erkenne keine, im Leben nicht. Ich bin die Tochter eines Vaters, dessen Vater als Leiter einer Blindeneinrichtung "seine" Blinden vor den Nazis schützte, aber seinen zweitgeborenen Sohn kurz nach dessen Geburt an deren Reinheitsgebote verlor - den Bruder meines damals dreijährigen Vaters. Ich bin die Tochter einer Mutter, deren Vater - ein Pastor - als Wehrmachtssoldat den Krieg und die Gefangenschaft in Russland überlebte und dabei doch jeden Tag gestorben sein wird. Wie sollte ich darüber nichts wissen? Wie sollte ich den Schmerz meiner Großmütter nicht fühlen? Ich bin daraus gemacht, dies ist Teil meines Duftes.

Was ich erkenne und anerkenne, ist eine Pflicht - auch meine - den Erzählungen aller Menschen (ganz gleich welchen Alters) zuzuhören. Und diese, wann immer möglich, weiterzuerzählen und dabei fortzuschreiben. Damit etwas, das nicht gut war, besser werden kann. Damit etwas, das verletzt wurde, irgendwann heilt.

Dafür gibt es, auch das erkenne ich in Parfums so deutlich wie sonst nirgends, keine richtige Reihenfolge und keine einzig angemessene Form. Diese Pflicht kennt weit mehr als nur eine Wahrheit. Sie kann sich entfalten, wenn wir etwas anerkennen, was Rainer Werner Fassbinder einem seiner Filme vorangestellt hatte: "Das Glück ist nicht immer lustig."

Der Film erzählt die Geschichte einer Liebe, die die Mehrheit ab-so-lut unmöglich fand und fände, völlig falsch, total daneben. Eine Mehrheit, die oft gar keine schweigende ist. Und sich derart laut und deutlich gern für objektiv hält, ohne es zu sein.

Das Glück ist nicht immer lustig. Meine Mutter mag diesen Satz auch, sehr. Mit meinem Vater ist sie einen Weg ganz bis zum Ende gegangen. Oft war das kein bisschen lustig. Und doch war es immer richtig. Meine Mutter ist 80, nicht mal ein Meter sechzig klein. Sie hätte die Größe, Shalimar zu tragen. Und hat die Größe, es nicht zu tun.

Vielleicht werde ich mir diesen Duft von ihr zu meinem Geburtstag wünschen (obwohl es wohl besser wäre, sie wüsste nicht, was dieses Zeug kostet). Ich bin mir jedenfalls sicher, dass ich Shalimar eines Tages haben, tragen und lieben werde. Dabei habe ich ihn bis heute noch nicht einmal getestet.

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