Poivre 1954 Extrait de Parfum

Trollo
31.01.2022 - 06:04 Uhr
21
Top Rezension
8
Preis
10
Flakon
7
Sillage
10
Haltbarkeit
10
Duft

(R)Emanzipation à la Caron – Gebt den Frauen Pfeffer!

Poivre zählt nach Tabac Blond (1919) und En Avion (1932) als Dritter zum Bunde der „Emanzipationsdüfte“ des Hauses Caron und ist Teil der europäischen Kulturgeschichte.

Seit Ende des Ersten Weltkrieges konnten sich Frauen sukzessive ihre Gleichberechtigung auf politischer Ebene erkämpfen, in der gesellschaftlichen Realität bestand diese Gleichberechtigung jedoch für weite Teile der Bevölkerung vieler Länder weitgehend auf dem Papier.
In Deutschland beispielsweise wurden Frauen im Dritten Reich einige ihrer hart erkämpften politischen Rechte wieder abgesprochen, bis sie durch den Männermangel während des Zweiten Weltkrieges in kriegswichtigen Berufen eingesetzt werden mussten, nach dem Krieg sogar als heute noch geachtete „Trümmerfrauen“ maßgeblich zum Wiederaufbau Deutschlands beitrugen. Nach dem Krieg kehrten die Männer der bis zum Schluss am Kriege beteiligten Staaten an ihre Arbeitsplätze zurück und Frauen konnten es sich leisten, wieder an „Heim und Herd“ zurückzukehren. Das Bild der Hausfrau im schlichten Kleid bestimmt noch bis heute das Frauenbild der 1950er-Jahre. Dieser allgemeine gesellschaftliche Umbruch während des Nachkriegsaufschwungs erfasste viele Länder der Welt und löste schließlich in den 1960er-Jahren eine zweite Welle der Frauenbewegung aus, die letztlich bis heute anhält. In diese Zeit ist auch die Entwicklung von Poivre einzuordnen.

1954 brachte Caron auf Initiative der rund 80jährigen Félicie Wanpouille einen Duft mit einer unglaublich markanten Pfeffer- und Gewürznelkennote auf den Markt: Poivre, zu Deutsch „Pfeffer“. Die Konzentration von Pfeffer und Gewürznelke war in dieser extremen Konzentration neu, Poivre war – und ist – einzigartig. Betrachtet man die Parfumo-Datenbank, so kann man ab Poivre und seinem Eau de Toilette-Pendant Coup de Fouet für den Verlauf der zweiten Emanzipationswelle eine beginnende Kontinuität dieser beiden Duftnoten annehmen; es wird „normal“, Pfeffer oder Gewürznelke in Düften zu nutzen. Für roten Pfeffer ist Poivre hingegen der früheste nachgewiesene Fall in der Datenbank Parfumos und nach wie vor wird er nicht allzu häufig genutzt.

Tatsächlich spielt der namensgebende Pfeffer zugleich mit der sogar noch etwas präsenteren Gewürznelke die dominierende Rolle in diesem Chypre, der trotz Reformulierung vor einigen Jahrzehnten seinen Charakter bis zu seinem durch die Ifra-Regulierungen vorgegebenen Ende vor wenigen Jahren behalten hat.

Poivre und ich, das hat eine Geschichte… Dem allgemeinen Trend folgend, wurde auch Poivre zeitweilig als Sprühflakon ausgegeben. Die immense Gewalt des Pfeffers konnte mich durch Sprühen nicht begeistern und jemand anders konnte sich daher nach einer Weile über den Flakon freuen. Dennoch kehrten meine Gedanken immer wieder zu ihm zurück, und so nutzte ich die Gelegenheit, als ich einen der länglichen kubischen Flakons Carons finden konnte – zum Tupfen, wie auch im Original so gedacht. Hier entfaltete sich ein erheblich vielfältigerer Duft jenseits des Pfeffers und mit komplexer würziger Schönheit, die in einer mindestens 40 Jahre älteren Vintage-Version, die schließlich auch noch ihren Weg zu mir fand, sogar noch (kraft-)voller zum Ausdruck kommt.

Poivre eröffnet in seiner zuletzt verfügbaren Formulierung mit einer gehörigen Dosis Pfeffer und Gewürznelke. Das Eichenmoss scheint recht schnell durch. Die etwas blasse Herznote umfasst Blumen, von denen ich vor allem die klassisch Caron'sche Rose zart erahnen kann. Während der Pfeffer bald in der Konzentration nachlässt, bleibt die Gewürznelke vorherrschend. Eugenol ist Bestandteil von Nelke und Gewürznelke; das Eugenol aus der Gewürznelke dominiert so stark, dass ich die in der Herznote angegebene Nelke nicht mit Sicherheit bestimmen kann. Sanftes Opoponax (und sehr zart eher erahnbare holzige Noten) legt sich über diesen würzigen Chypre und gibt ihm ein orientalisches Flair. „Pudrig“ nennt ihn Tinfred in ihrem Statement, „warmer Pfeffer-Nelken-Seiden-Schleier“ beschreibt Violett – oder als vergleichbar einem ‚Geruch in der Zahnarztpraxis‘ Lisalui633. In dieser Formulierung wirken die Gewürze und Bestandteile gelegentlich etwas unverbunden nebeneinander und die Gewürze stehen mehr mit der Basis als mit der Herznote in Verbindung, was ihn eher zu einem ‚würzorientalischen Chypre‘ macht.

In manchen Rezensionen wird von einer Reformulierung (2011) berichtet. Tatsächlich sind im Vergleich zum Vintage einige Unterschiede erkennbar, die nicht allein auf Reifung zurückzuführen sind, obgleich die Noten recht ähnlich sind.

Die Eröffnung mit Pfeffer und Nelke ist beim Vintage regelrecht „würzgewaltig“. Es ist aber eine dunkle Würze, die eine ungeahnte Kraft durch ihre Herznote und Basis gewinnt: Ylang-Ylang umfängt den Gewürzsturm sanft und lieblich, nimmt ihm aber keineswegs die Kraft, sondern die Gewürzspitzen und potenziert seine Würzgewalt. Es ist so bereits im Auftakt das gewisse „Etwas“ zu spüren, das man nur durch Hinzugeben sanfter Süße zu würzigen Speisen oder Düften zu erhalten vermag. Die Basis leuchtet bereits durch den Auftakt hindurch, bildet einen dunklen Kontrast, vor dem in der Folge intensive Blumennoten dem nelkenpfeffrigen Ambiente beitreten und mit ihm ringen. Neben Ylang-Ylang ist etwas Rosiges gut vernehmbar, daneben deutliche Weißblüher wie wahrscheinlich Tuberose, die gegenüber der omnipräsenten Gewürznelke nicht klein beigeben. Anders als bei der zuletzt verfügbaren Formulierung kann ich die einzelnen Noten der Basis bis auf das Eichenmoos nicht identifizieren – klassische "Caronade". Insgesamt wirkt der Vintage-Poivre dunkler, runder, ausgeglichener und durchkomponierter; an keiner Stelle wirken die Bestandteile nicht als Teil des Gesamtduftes – und pudrig ist der Vintage keineswegs. Die dunkle Basis hält auch dann noch vor, wenn die Basis der zuletzt erhältlichen Formulierung zum pudrigen Chypre-Orientalen verblasst. Victoria in Bois de Jasmin beschreibt wohl aus diesem Grunde Poivre der zuletzt verfügbaren Reformulierung als eher ‚pink‘ denn ‚purpur‘ und glaubt Poivres Schönheit verloren.

Dem würde ich so nicht zustimmen; der Vintage entspricht in seiner unglaublichen schmelzenden Blütenpracht als Gegengewicht zu Nelke und Pfeffer vor dem Hintergrund der legendären „Caronade“ (der Eichenmoos-Sandelholz-Basis) dem Stil seiner Entstehungszeit: Blumige Chypres waren in den 1950er-Jahren immer noch bekannt und beliebt, und ein solcher ist letztlich vom Grunde her auch Poivre, der mich im Drydown stark an Or et Noir in seiner originalen Formulierung erinnert und seine Herkunft so nicht verleugnen kann. Die zuletzt erhältliche Formulierung ist eindeutig immer noch „Poivre“, dem Zeitgeist angepasst; er ist damit auch für all diejenigen eine tragbare Alternative, die das „Altmodische“ in Carons Düften nicht so sehr schätzen oder tragen mögen wie Freunde des Hause Caron, für die gerade das „Altmodische“ einen hohen Wiedererkennungswert hat. Bei mir bleiben auf jeden Fall beide Formulierungen.

Poivre ist und bleibt auch in der letzten Formulierung ein verzaubernder Nelken-Pfefferduft, der sich hinter keinem der sog. „modernen Nischendüfte“ verstecken muss.

Und was seinen kulturhistorischen Wert angeht – solange wir noch Gesetze brauchen, die Frauen in Führungspositionen bringen sollen, solange alte Männer unter dem Jubel der Massen und auch vieler Frauen reaktionär und frauenfeindlich Politik machen können, solange Emanzipation noch nicht selbstverständlich ist – solange brauchen wir auch "Poivre".
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