DasguteLeben
23.05.2022 - 12:20 Uhr
8
Sehr hilfreiche Rezension
10
Preis
8
Flakon
6
Sillage
6
Haltbarkeit
9.5
Duft

Amerikaner fotografiert Engländer beim Malen einer toskanischen Landschaft

Crabtree & Evelyn entstand Ende der 60er Jahre in Woodstock, Connecticut aus einem Hobby des Filmdistributeurs Cyrus Harvey und seiner Frau. Harvey, Sohn jüdischer Einwanderer aus Litauen bzw. Polen, hatte einige Jahre nach dem Krieg aufgrund seiner 1944/45 in Paris entflammten Liebe zum französischen Cinéma mit einem Partner in Cambridge, Mass, einen Verleih für Arthouse Filme gegründet - Janus Films - der bedeutende Werke von Antonioni, Bergman, Fellini, Kurosawa u.v.m. nach Amerika brachte. Nach Verkauf der Firma 1966 zog er nach Connecticut aufs Land und wollte sich dem Gärtnern, der Corgi-Zucht und anderen sehr englisch klingenden Dingen widmen, doch aus Faszination mit der alternativ angehauchten Ladengalerie, die er unterhalb seines Lichtspielhauses in Cambridge, dem berühmten Brattle Theater, entwickelt hatte, entstand die Idee, statt Filmen jetzt Seifen aus aller Welt zu importieren. Mit dem Fantasienamen Crabtree & Evelyn wurde das ganze anglophil aufgehübscht und zunächst aus den eigenen vier Wänden betrieben, doch schon bald entstand ein Laden und dann Dependancen, die Beautyprodukte, Lebensmittel und Accessoires im hippen Landhausstil vertrieben. Als Harvey C&E 1996 verkaufte gab es allein in den USA 160 Filialen.

Was hat das nun alles mit Sienna zu tun? Nach meiner Wahrnehmung sehr viel, denn es ist genau solch eine wunderbare Phantasie eine klassischen alteuropäischen Herrenduftes wie sie ein romantischer Amerikaner erträumen würde. Stilistisch fest in der Hochphase der „mehr- hilft-mehr“-Ära der 80er Jahre verankert, ist Sienna ein ledriges grünes Chypre mit vielen Berührungspunkten zu der Aramis-Serie – dem Urduft, Tuscany und besonders auch Devin aber auch vielen anderen Klassikern der Ära, die eine komplexe DNA aus Zitrusnoten, Galbanum, Artemisia, Muskatellersalbei, Nelke, floralen Komplexen, Patchouli, Ambra, Leder, Eichenmoos und mehr teilen. Es verwundert nicht, dass Sienna sowohl italienische als auch Jermyn-Street Assoziationen weckt, es irisiert genau zwischen diesen Polen von „Italianità“ und „Britishness“, welche sich ja auch in der Herrenschneiderei verwirken.

Der Schöpfer Siennas ist nicht bekannt, hergestellt wurde der Originalduft, den ich besitze, allerdings in England. Sollte es gar auch John Stephen sein (Dukes of Pall Mall, Czech & Speake), dieser heimliche Elgar der englischen Parfümerie? Zuzutrauen wäre es ihm, denn obwohl Sienna ein günstiger Duft war, ist die Konstruktion hervorragend und sticht durch den cleveren Einsatz von Bienenwachs aus dem weiten Feld der Zeitgenossen hervor, welches mit seiner süsslich-wächsernen Note die grünen und ledrigen Töne wunderbar abpuffert und tatsächlich einen olfaktorischen „Sienna“ Ton einbringt, warm und ruhig wie eine toskanische Abendsonne, die Häuser und Felder mit einem rötlichen Gold überzieht. Und das ist dann auch das Bild, das ich von Sienna vor meinem geistigen Auge habe: ein europhiler Amerikaner fotografiert einen Engländer, der eine toskanische Abendlandschaft malt. Klingt postmodern, duftet aber ganz fantastisch.
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