Poison 1985 Eau de Toilette

Ponticus
15.05.2022 - 08:57 Uhr
88
Top Rezension
7
Preis
8
Flakon
8
Sillage
9
Haltbarkeit
9
Duft

Ein Unfall

Die Mutti ist tot, plötzlich aber nicht unerwartet. Das war vorauszusehen und hatte sich immer mehr abgezeichnet. Eine Entscheidung stand als Frage seit längerem im Raum und heute ist die Mutti von der Leiter gefallen. Sie konnte sich nicht halten, ein tragischer Unfall! Aus und vorbei mit ihr von heut auf gleich. Die Mutti ist zu Tode gekommen und man hat sie gerade weggebracht. Nur ihr Parfüm steht noch im Raum, unglaublich präsent, potent, vorlaut, grell und wuchtig. Robuste Eigenschaften die ihm abgehen, aber die die Mutti und diesen markanten, kraftvollen Parfümgeruch trefflich charakterisieren.

Der Boden auf dem sie lag, ist immer noch gesäumt von einer süßen floralen Würze und reifer, beerensüßer Frucht, die wie ein transparenter Schleier immer ihre satte, pure Weiblichkeit bedeckte. Obwohl nicht mehr da, ruhte ihre Gestalt im betörenden Geruch des zum Schierlingsbecherduft mutierten Poisons, wie in einem cremig, tiefen See. Dieser dunkle, süße Honigblütenduft den die Mutti, aber auch unser Haus über die Zeit als Grundton angenommen hatte, war deutlich zu spüren. Zusätzlich zeugte ein noch intensives, aber mittlerweile etwas abgestandenes kandiertes Tuberose-Jasmin-Lüftchen auf dem etwas abseits liegenden Leichentuch von den vergangenen, dramatischen Stunden. Der sanft entströmender Hauch kalten Weihrauchs und dichte, vanillige Creme machten Horst in seiner gerade begonnenen Witwerrolle zitternd und ganz benommen.

Horst lernte die ungestüme und leidenschaftliche Dagmar schon vor vielen Jahren kennen und mit ihr diesen betäubend, verführerischen Duft von Diors Poison. Er war gleich hin und weg von diesem raumerfüllenden Duo aus Frau und Parfüm dessen Gegenwart ihn mit Faszination und Wohlgeruch sofort in den Bann ziehen konnte. Mit Redeschwall und Charisma beherschte Dagmar jede Szenerie und in Kürze auch ihn! Er konnt es zwar nie komplett ergründen, aber irgendetwas hatte er ihr wohl auch zu bieten, denn bald darauf heirateten sie. Mit der Gesamtsituation sehr zufriedern, konnte Horst sich jetzt seinen Interessen widmen, denn um alles andere kümmerte sich nun die Mutti. So nannte er Dagmar inzwischen aus alltäglicher Intimität heraus und obwohl ihnen Kinder versagt blieben, nannte sie ihn auch Vati.

So wohnten beide die Jahre nebeneinander her. Er beschäftigte sich mit sich und machte ansonsten, was sie sagte. Mit seinem demütigen und gedemütigten Leben hatte er sich abgefunden, er hatte es sich so ausgesucht, Freiheit und Selbstbestimmung gegen Gemütlichkeit und Gleichmut eingetauscht. Und doch brodelte es in Horst. Dieses ständige sich fügen, andauernd sich wegducken, das alltägliche klein beigeben und das immer fein Stille sein zehrte an ihm. Davon drang nichts nach außen, aber es wurmte ihn innerlich sehr.

Aus dem Ruder begann es zu laufen, als aus seinen Hosen-, Jacken- und sogar Aktentaschen immer öfter ein balsamisch-süßer Fluff entströmte und er das Gefühl hatte orientalische gewürzte Pflaumen mit sich zu tragen. Natürlich kannte er diesen unbändig lockenden, süßrauchigen, charmant fruchtigen, aufreizend blumigen, die Sinne berauschenden Duft, der so tiefgründig, zimtwürzig, honigsüß und feinholzig und mit der üppig cremigen Vanille einzigartig ist. Er mocht ihn auch den Geruch von Poisen, aber was hatte dieser in seinen Sachen, seinen Alben und seinen Herbarien zu suchen?

Dies ließ nur einen Schluss zu, die Mutti durchsuchte seine Taschen, stöberte in seinen Dingen, schnüffelte in seinem Kram, brachte Unordnung und Chaos in die wohlgeordneten Sammlungen. Teile der Herbarien-Bilder verschwanden, dafür tauchten immer mehr Salzteigfiguren auf, die nicht einmal gut rochen und schauten Horst hämisch grinsend an. Dann beim Aufhängen einer besonders häßlichen Salzteigfigurencollage ist die Mutti heute von der Leiter gefallen. Sie konnte sich nicht halten und er nicht die Leiter zu deren Sicherung er von der Mutti befohlen wurde. Ein Unfall mit Genickbruch, ein schneller Tod.

Der Duft von Poison lag weiterhin als süßlicher Hauch im Zimmer fest, denn als Trauerschleier mochte er sich nicht ausbreiten. Den Duftflakon mit dem Parfüm Poison wird Horst ganz sicher behalten, aber den Salzteigfiguren geht es morgen an den Kragen und der Vati wird mit der Mutti beerdigt.

Im Leben geht oft etwas schief, manchmal gar das ganze Leben. Die Schuldfrage hat noch nie die Probleme gelöst, nichts sehen, nichts hören, nichts sagen aber auch nicht. Ich danke für Anteilnahme und Mitgefühl gegenüber der Mutti, dem Vati oder dem Verfasser des Textes.
61 Antworten