Elisandra
03.04.2013 - 12:29 Uhr
17
Top Rezension
10
Flakon
10
Sillage
10
Haltbarkeit
10
Duft

Die Venusfalle oder "all that Swing"

endlich wage ich mich, einen Kommentar zu diesem legendären Parfum zu schreiben, ich brauchte etwas Anlauf dafür.

Im Grunde wurde schon alles zu "Shocking" in den vorangegangenen Kommentaren geschrieben, auch und vor allem das geschichtlich Wissenswerte über Elsa Schiaparelli, das ich hier las, und das mich veranlasst hat ihre Biografie "Shocking Life" zu bestellen. Alles was ich dazu schreiben kann ist lediglich was dieses Parfum für mich bedeutet, ganz persönlich.

"Shocking" und die Suche dannach, hat für mich einige neuen Türen geöffnet, seitdem sehe ich Parfum und Frauen anders als zuvor. Ende Januar machte ich mich auf die Suche, ich wollte "Shocking" riechen und dachte im KaDeWe könnte ich das tun, da sie, meiner damaligen Meinung nach, "alles" führten. Wie gross war meine Überraschung zu erfahren, dass die Fachverkäufer der diversen Depots dort nie etwas davon gehört hatten und mich verständnislos ansahen. Selbst am "Caron" Stand, wusste man nichts davon. Erst bei der älteren fachkundigen Dame bei Guerlain, stiess ich auf eine Person, die davon gehört hatte, ihn aber nie gerochen hat.
Mitte Februar, zu meinem Geburtstag, überreichte mein aufmerksamer Freund mir dann etwas, womit ich nie gerechnet hatte: einen Flakon mit Vintage "Shocking". Er hatte weder Kosten noch Mühe gescheut, ihn für mich aufzutreiben! Ich besass diese Legende plötzlich und näherte mich ihr mit gebührendem Respekt, was ich im Grunde heute, 6 Wochen später immer noch tue.

Und nun zum Duft selbst: was für ein strahlender, lockender, unverschämter Honigtopf!
Wie eine seltene exotische Blüte, die "Königin der Nacht" vielleicht, ich kenne mich botanisch nicht so aus, ist "Shocking" ein einziges unverblümtes Sexuallockmittel, ein Gebräu aus Blumen (und was sind Blumen bitte sonst als die offen dargebotenen locken duftenden Sexualorgane der Pflanzen?) und einen winzigen Hauch Katzenpippi.
Eine Blume braucht im Frühling viele Insekten zu ihrer Befruchtung, und sie weiss, dass sie mit besonderer Ausdruckskraft die anderen konkurierenden Blumen übertrrumpfen sollte um eine Chance zu haben.
"Shocking" ist die durchtriebenste aller Blumen, denn die lockt mit viel süss-herbem Honig (sehr viel Honig)und dazu den betäubendsten, erotischsten Blumendüften, allem vorran Jasmin und Narzisse (ich rieche auch etwas Mimose).

Die Fliegen-und Bienenmännchen fallen alle reihenweise in sie hinein, um in ihrem abgründigen, duftenden Schlund verschlungen zu werden, wo sie durch die Mangel gedreht werden um später taumelnd und von Sinnen, wieder rausgespuckt zu werden nachdem sie ihre "Aufgabe" erfüllt haben. Shocking? oh jaaa! :)

Dieses extrem offen Erotische, ist wohl das, was in den vergangenen Dekaden, den Menschen die Schamesröte ins Gesicht getrieben hat. Und es ist, naturellement, das was im absoluten Gegensatz zu Mademoiselle Chanel´s kühler unterstatement Eleganz eines Chanel No5 stand.
Die beiden Damen waren sich noch nie grün gewesen, und die Lancierung des Parfums "Shocking" machte die Standortbestimmungen ein für alle mal klar. Elsa Schiaparelli hatte allen gezeigt "wo der Hammer hängt". Gegensätzlicher als die beiden Mode und Parfum Ikonen und Zeitgenossinen, hätte man nicht sein können: die eine (Chanel) aus kleinen Verhältnissen, strebte stets nach Eleganz und schlichter Würde, die andere, Schiaparelli, Spross alten italienischen Hochadels,eine Freundin von Dali, strebte nach dem Gegenteil, sie wollte schockieren und dekonstrieren, durchrütteln und neu zusammen setzten.

Dabei ist "Shocking" nach heutigen Massstäben keineswegs "nuttig", obwohl es damals als "schamloser Freudenmädchenduft" verschrien wurde, die Moralvorstellungen sind heute nicht mehr die der 30er Jahre des 20 Jahrhunderts. Auch wenn es offen erotisch ist, ist es das auf eine stets charmante, fast unschuldige Weise, es ist nie "porno".

Was kann man noch zu "Shocking" sagen? Die Sillage und die Haltbarkeit sind enorm gut. Der Honig bleibt die ganze Zeit am Ball, doch nach Stunden kommt die in Gewürze gebettete Rose stärker hervor, es riecht auch im Abklang etwas nach altem aromatischem Rotwein aus dem Eichenfass, die holzigen Noten der Basis gestalten sich würzig-blumig, beschwingt. Im Grunde "swingt" Shocking die ganze Zeit, wie eine heitere Jazz Melodie mit Saxophon, etwas was ich so bei einem Parfum nie empfunden habe, und dieser Swing bleibt bis zum Schluss erhalten, wie ein antreibender Pulsschlag, eine Melodie, die mal lauter, mal leiser erklingt, doch stets da ist. Zum Teil muss ich auch an Räucherstäbchen denken, die der billigeren, blumigen Sorte, aber nicht unangenehm. Sie brennen am Rande des Lotterbetts, in dem das "schamlose Freudenmädchen" ihrere willenlosen Verehrer verschlingt, oder, wie böse Zungen behaupten, die in die jahre gekommene Femme Fatale, die weiterhin darauf besteht zu verführen, eine ewige Venus.
Trotz alledem ist "Shocking" nicht nur erotisch, es bewahrt sein Geheimnis und seine mystische Aura. Ein Balanceakt, dem man erst nachmachen muss, es gelingt nicht jedem.
Mein Fazit: die Frauen der ersten Hälfte des 20sten Jahrhunderts waren keineswegs unfrei. Diese unfassbaren Parfüm Persönlichkeiten, die wir heute noch in Vintage Form die Freude haben zu kennen,(Shoking, Femme, Tabu, Mitsouko und Co) sprechen eine deutliche (olfaktorische) Sprache. Exzentrik und Selbstausdruck konnten noch gross geschrieben werden, man erlaubte sich weiss Gott was, und noch mehr.
Heute, da so gut wie alle grossen Parfums "reformuliert" wurden (ihren die Zähne gezogen wurden, ihre Persönlichkeit alle Ecken und Kanten verloren hat)und sie gefällig für den Markt aufgearbeitet wurden, und die neuen Parfüms für die "neue Frau" harmlos wie ein Bombonshop riechen, wie eine Nachspeise, ein Obstkorb oder ein gefälliges Blumenbouquet, da kann man sich Gedanken darüber machen, welche Rolle eine Frau noch spielt in der emanzipierten Mediengesellschaft des 21 Jahrhunderts und warum sie "lecker" oder "frisch gewaschen" riechen möchte und nicht "verwegen" oder "gefährlich". Ich möchte diese Frage nicht beantworten, wünsche mir aber manchmal mit einer Zeitmaschine im Paris oder Berlin der 2oer und 30er Jahre unterwegs zu sein, wo ich alle diese verruchten Frauencharaktäre treffen könnte, die es damals gab, und die heute höchstens noch als exzentrische alte Schachtel oder als Grosstante existieren, wenn überhaupt. Jede Zeitepoche hat die Düfte die es verdient ;)

Die folgende Illustration habe ich angeleht an die alten Shocking Werbeplakate gemacht:
http://www.parfumo.de/Benutzer/Elisandra/Bild/22502
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