She Was an Anomaly 2019

Ronin
21.03.2022 - 16:16 Uhr
9
Preis
8
Flakon
8
Sillage
7
Haltbarkeit
8
Duft

Iris, abweichlerisch?

„My mother, she was an anomaly, she was brilliant, she was loved but she paid a huge price.”

Ein Zitat Lisa Simones über ihre Mutter Nina. Nina Simone, große Jazzdiva, „Hohepriesterin des Soul“ genannt, galt in der Plattenindustrie als schwierig, war sprunghaft, eine Getriebene. Ihre Wutausbrüche waren legendär. Zum Teil lässt sich das erklären mit einer bipolaren Störung, die erst im Alter von 60 Jahren diagnostiziert wurde. Lisa Simone hatte das Gefühl, eine Mutter zu haben, die nicht fähig war, sie bedingungslos zu lieben. Dennoch sagt sie mit ihrem Zitat: das gehört zusammen. Das, was wir an Nina Simone lieben, bewundern, ihre Kunst, ist nicht zu trennen von dem, was ihre Tochter als „Anomalie“ bezeichnet.
Parfumnamen verdienen selten Aufmerksamkeit. Bei Etat Libre d'Orange hingegen kann es lohnend sein: oft führen sie in die Irre und die Parfums sind anders, als wir erwartet hätten. Dennoch, um eine Ecke gedacht, passen die Namen dann wieder hervorragend. Uns wird ein Spiegel vorgehalten, wie sehr Voreingenommenheit uns hier im Weg stehen kann.
Wenn nun Lisa Simone nach Worten sucht, um ihre Mutter zu beschreiben, und all die Facetten und widerstrebenden Gefühle unter dem Begriff „Anomalie“ zusammenfasst, dann ist das viel zu groß, viel zu bedeutend zur Beschreibung lediglich eines Parfums. Hier scheint „Anomalie“ nur zu bedeuten: abweichend vom Standard, abseits des Gewöhnlichen.
Also: ist "She Was an Anomaly" ein so noch nie gerochenes Parfum? Werden Konventionen eingerissen? Nein. Es ist ein unaufgeregter, raffiniert reduzierter Irisduft. Nicht die buttrige, cremige Seite der Iris wird betont, sondern die pudrige. Das deutet darauf hin, dass (wie fast immer) synthetische, keine natürliche Iris eingesetzt wurde: letztere bringt eine erhebliche Cremigkeit mit, während bei der synthetischen Nachstellung das Pudrige im Vordergrund steht. Hiervon ausgehend kann mit einer geeigneten Inszenierung die Iris sehr kühl, fast metallisch wirken – wie hier bei "She Was an Anomaly". Diese Art der Inszenierung ist in den letzten 20 Jahren zunehmend populär geworden: Yann Vasnier könnte der erste gewesen sein, der dieses Metallisch-Kühle der Iris in "L'Homme de Cœur" pointiert herausgekitzelt hat mit einer Kombination aus Angelika, Zypresse und Vetiver. Annick Ménardo erreichte in "Bois d’Argent" einen ähnlichen Effekt, in dem sie der Iris Räucherharze wie Weihrauch und Myrrhe an die Seite stellte. Diese beiden Düfte waren Trendsetter, gerade der Diorduft: während für "Dior Homme" Olivier Polge diese Iris in Schokoladenkouvertüre tunkte, zitieren Carthusias "1681" und Van Cleef & Arpels "Collection Extraordinaire - Bois d'Iris" den Duft Annick Ménardos deutlich.
In dieser Tradition bewegt sich auch "She Was an Anomaly". Die Betonung der kühlen Pudrigkeit erreicht Daniela Andrier hier nicht durch Räucherharze (obwohl eine Spur Weihrauch sogar enthalten sein könnte), sondern mit einem ebenfalls prägnant pudrigen Moschus. Die anderen Noten sind Beiwerk: die Manderine ist auf Papier noch zu erkennen, auf der Haut in kürzester Zeit nicht mehr. Die Sandelholznote schwingt vom Start bis zur späten Basis im Hintergrund mit und unterstützt die Textur, ohne sich jemals nach vorne zu drängen. Was bleibt ist Iris, noch reduzierter als in den anderen, das Kühl-Pudrige betonenden Parfums. Diese eigentümliche Irisinszenierung hat Apicius einmal eingängig als den Geruch stockfleckigen Papiers beschrieben.
Das Parfum zeigt kaum einen Verlauf und schafft es – handwerklich exzellent – dass sich die Proportionen über die respektable Haltbarkeit hinweg kaum verschieben. Interessant ist, dass der Duft dabei nicht langweilig wird: Parfums ohne ausgeprägte Bögen brauchen eigentlich Kontraste oder eine innere Spannung, um animierend zu bleiben und nicht irgendwann einfach zu nerven. Wie dieser Duft das erreicht, weiß ich nicht.
Zusammengefasst: keine Anomalie, sondern vielleicht sehr gut, aber auch sehr normal? Möglicherweise nicht nur. Bei der Entwicklung des Parfums wurde künstliche Intelligenz eingesetzt und der Rechner wurde mit der Givaudanformeldatenbank und den Vorlieben Daniela Andriers gefüttert. Das Programm empfahl nun eine ungewöhnliche Überdosis Iris mit Moschus, auf die die Parfumeurin laut eigener Aussage nie gekommen wäre. Für sie eine Anomalie. Sie ergänzte die Formel nur noch. Ob das Außergewöhnliche dieses Duftes auch für nichtprofessionelle Nasen eine „Anomalie“ darstellt, wage ich zu bezweifeln.
Was bleibt ist das Parfum: ein fokussierter Irisduft.
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