Grey Flannel 1975 Eau de Toilette

Stulle
08.04.2022 - 15:24 Uhr
45
Top Rezension
9
Sillage
9
Haltbarkeit
8.5
Duft

Ein echter Charakterduft

Machen wir uns nichts vor: GREY FLANNEL ist nicht modern. Ganz und gar nicht. Kein bisschen. Absolut null. In keinster Weise - und gerade deswegen übt er eine immense Faszination auf mich aus.

Beim ersten Sprüher überkommt mich ein seltsames Gefühl - das Gefühl von Unnahbarkeit, Humorlosigkeit, nüchternem Ernst und Vergangenheit. Galbanum - hier offensiv - ist wirklich nicht jedermanns Sache, wie man hier bestimmt schon bemerkt hat.

Jedoch direkt nach diesem fast schon schroffen Beginn öffnet sich der Duft: eine helle Klarheit von zitrischen Noten und Neroli-Klängen entfaltet sich. Wie eine dichte & tiefhängende Wolkendecke, die nach dunklen und verregneten Novembertagen plötzlich ganz unerwartet aufreisst und blauer Himmel wieder Hoffnung gibt. Mut. Lebenskraft.

Ein bisschen auch wie: verschmitzter Humor, der auf einmal inmitten einer hanseatischen Ernsthaftigkeit aufblitzt und ein gutes, freundliches Wesen zeigt. Aber auch bloß nicht zu viel: „Na, dann wollen wir mal nich’ übermütig werden, junger Mann, näch?!“ (durch die Nase lachend).

In der Herznote gelangen wir zu einer Blumigkeit, die mit süßen Damendüften absolut nichts gemein hat. Also keine netten, kleinen Blümchen, die liebreizende Enkeltöchter im deutschen Heimatfilm der Fünfziger Jahre der knuffigen Großmutter von der grünen Wiese mitbringen.
Die Narzisse ist für mich die herausragende Blüte, die in ihrer Klarheit GREY FLANNEL als blumig-trockenen Herrenduft definiert. Ebenso vermeine ich einen Hauch Hyazinthe zu verorten, die für mich immer etwas herb-metallisch duftet und dabei an Klassiker wie z.B. Chanel Cristalle erinnert.
Neben einer Spur trocken-pudriger Iris glaube ich, Salbei in homöopathischer Dosis zu erkennen. Ich habe aber gerade eine Tasse Tee mit Salbei aus Mutters Garten getrunken, vielleicht hat das dem Kraut in die Karten gespielt.
Die Basis ist üppig eichenmoosig, jedoch ohne jegliche fruchtige Süsse, die ich oft in eichenmooshaltigen Damendüften wahrnehme (und auch sehr mag). Möglich, dass eine Spur Tonkabohne die Komposition abrundet, aber genau identifizieren kann ich sie nicht.

GREY FLANNEL ist nun beim besten Willen kein harmlos-unauffälliger Mainstream-Duft, der problemlos und stromlinienförmig in die Duftlandschaft der Zwanziger Jahre dieses Jahrhunderts passt. Nein, es ist ein äußerst markanter und galbanumfrischer Narzissenduft mit einer maskulin-herben Basis, geprägt von einer wahren Fülle interessanter Duftnoten und einer höchst spannenden Entwicklung. Aus der Zeit gefallen? Unbedingt! Jedoch nicht zwangsläufig im negativen Sinne.

An jungen Männer kann ich mir den nur schwerlich vorstellen; ich vermute, dass man dafür schon einen gewissen Reifegrad benötigt. Andererseits - vielleicht sollte man es gerade deshalb mal wagen? Denn aus der süßlich-frisch und nett riechenden Masse herausragen wird man damit garantiert.
Was die Tragbarkeit für Damen angeht, würden mich Erfahrungen diesbezüglich interessieren; ich konnte leider kein weibliches Wesen meiner Umgebung zum Test überreden ;)

Mit Sicherheit ist GREY FLANNEL ein Charakterduft, den man als Meilenstein der Parfumgeschichte betrachten muss und auf jeden Fall gerochen haben sollte. Parfumneulinge, traut Euch - vielleicht findet Ihr ihn (noch) furchterregend, aber ich garantiere: Ihr werdet Euch an diesen Duft erinnern.
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