Botrytis 2008

Ronin
14.07.2012 - 17:03 Uhr
7.5
Flakon
5
Sillage
5
Haltbarkeit
2.5
Duft

Ein Süßwein ohne Balance und Sexappeal

Botrytis cinerea ist ein Schimmelpilz, der Weintrauben am Stock befällt. Sind die Trauben ausreichend reif und spielt das Wetter mit (Frühnebel, ansonsten trocken), so ist dieser Pilzbefall durchaus erwünscht und wird Edelfäule genannt. Unter diesen Bedingungen perforiert der Pilz sehr fein die Beerenhäute. So kann Wasser verdampfen, ohne dass Saft ausläuft oder dass die Beeren bei gelindem Regenfall aufquellen. Als Folge des Verdampfens des Wassers wird der Rest, v.a. Zucker, aufkonzentriert. Weiterhin verändert sich die Aromatik der Trauben, ein Botrytiston ergänzt Geruch und Geschmack.
Diese Trauben enthalten so viel Zucker, dass der Saft gar nicht komplett vergären kann. Also werden aus solchen Trauben Süßweine gewonnen, goldglänzende, dickflüssige Elixire. Sehr süß, mit Aromen von Honig und Quitte. Der Botrytiston ergänzt Bouquet und Geschmack um bittere Komponenten, die geruchlich etwas ins Pilzige gehen und mich sehr charakteristisch an Heftpflaster erinnern. Das mag jetzt wenig appetitlich klingen, ist aber essentiell für die Harmonie der Weine: erst das Wechselspiel süß/bitter in Nase und am Gaumen macht den Wein spannend und facettenreich und Lust auf mehr als einen Schluck. Ohne das Gegengewicht Botrytiston wäre der Wein einfach nur pappig süß, breit und langweilig.
Beispiele für solche Weine sind deutsche Beeren- oder Trockenbeerenauslesen oder die Süßweine des Bordelais, am bekanntesten Sauternes.

Das Bordelaiser Weinhaus Ginestet hat nun in Anlehnung an diese Süßweine den Duft "Botrytis" kreiiert.

Warum eine so lange Einführung für Duft? Nun, wie Louce beschrieben hat: dieser Duft ist süß. Pappig. Zu süß. Viel zu süß. Nur süß. Der etwas aprikosige Quitte-Honig-Akkord ist wunderbar und passend. Aber alles, was die Harmonie, die Spannung eines Botrytis-Süßweins ausmacht - fehlt.
Es wäre einfach gewesen, diesen Mangel auszugleichen: Oud z.B. entsteht ja durch Schimmelpilzbefall und der ätherisch-bittere Aspekt und die manchmal etwas muffige, pilzige Note erinnern sehr an den Botrytiston. Wie ich bei "Lui" und "Yellow Sea" lernen durfte, kann auch Castoreum einen Widerpart für allzu breite Süße geben. Nichts dergleichen in dem Duft. Ich will ja gar nicht unbedingt eine 1:1-Nachstellung eines Süßweins - den trinke ich lieber. Aber die Prinzipien, die einen Wein mit Genuss trinkbar und ein Parfum mit Spaß tragbar machen, sind in diesem Fall die gleichen. Sicher gibt es neben den beiden von mir ins Spiel gebrachten Noten auch andere, die den bitteren Widerpart geben könnten. Die von mir genannten hätten allerdings den Vorteil, dass "Botrytis" zumindest eine Ahnung von Sexappeal hätte - was es mir erlauben würde, darüber zu schreiben (Kommentare mit entsprechendem Inhalt bekommen auf Parfumo mehr Pokale und "hilfreich"-Bewertungen).

Warum hat Ginestet nicht versucht, Balance herzustellen? Dafür fallen mir nur zwei Erklärungen ein, und beide sind nicht schmeichelhaft für das Haus:
1. Ihnen ist nicht bewusst, was die Harmonie eines Botrytisweins ausmacht. Sie entsteht oder sie entsteht auch nicht.
2. Sie wollen ihre Kunden auf keinen Fall mit Noten konfrontieren, die irgendjemanden irritieren könnten. Wenn das ihre Philosophie ist, dann machen sie auch glattpolierte Sicherheitsweine, die niemandem weh tun. Weine, mit denen man nichts falsch machen kann. Aber auch nichts richtig.

In Summe wird vom Blindkauf sowohl der Parfums als auch der Weine abgeraten.
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