Voyage d'Hermès 2012 Parfum

MNGR
09.05.2021 - 09:58 Uhr
14
Sehr hilfreiche Rezension
8
Preis
7
Flakon
8
Sillage
8
Haltbarkeit
9
Duft

Unerwartete Prophezeiungen

Vor einigen Jahren - ich meine, es war 2013 - habe ich diesen Duft das erste Mal bewusst wahrgenommen. Das war im Hochsommer auf einem Open Air in Waldesnähe, ziemlich genau im Zentrum der Republik. Trotz geschätzt zweitausend Besuchern war die Atmosphäre, aufgrund der grünen Idylle und hohen schattenspendenen Mischwaldgehölzen ingesamt sehr angenehm und familiär. Gut, ich muss gestehen: die Community um die Partymacher herum ist mir bekannt und ich bin mehr oder weniger ein Teil davon. Aber trotzdem: die Stimmung war gefühlt enorm frei und gelöst. Es schwebte diese unsichtbare Wolke aus Entspannung, Empathie und dem Bewusstsein für die Besonderheit der Situation über Allem.

In Momenten, in denen man live diese Aura wahrnimmt und sich so sehr darüber freut, dass sie da ist, ebbt sie oftmals kurz darauf wieder ab. Vermutlich weil die Erwartungen ad hoc exponentiell zu wachsen beginnen, sobald die beschrieben Wahrnehmungen eintreten. Ich schätze, in ca. 10%* der Fälle hält dieser Höhenflug an und die Party bleibt im Gedächtnis. In ca. 1%* der Fälle übertreffen die darauffolgenden Stunden, die Erwartungen. Der Vorteil daran, dies wird fortan einen Pfeiler in Cortex und Hirnrinde bilden. Der Nachteil: sobald der beschriebene Vorteil eintritt, werden sehr lange danach viele Parties und Happenings zwangsläufig daran gemessen, was gewissermaßen unfair gegenüber darauffolgenden Ereignissen und ihrer nahezu unerfüllbaren Prophezeiung ist.
Im vorliegenden Fall wurde die Besonderheit der Umstände durch eine Begegnung mit einer guten Bekannten maßgeblich forciert.

Ich stand an der Bar, hatte gerade mein Getränk bekommen und eben jene Bekannte kam aus Richtung der Tanzfläche, mit einer kleinen Menschentraube um sich herum, direkt auf mich zu. Wir hatten uns zu diesem Zeitpunkt seit langem nicht gesehen und begrüßten uns entsprechend herzlich und überschwänglich. Dabei kommt man sich natürlich relativ nahe. Wir unterhielten uns kurz. Nach zehn Minuten ging ich tanzen. Sie irgendwo anders hin. Schon auf dem Weg zur Tanzfläche war für mich alles etwas anders als vorher, dachte ich. Auch während des Tanzens wurde ich dieses Gefühl nicht los. Das Grün der Bäume war kräftiger, der Himmel blauer, die Musik besser und die Menschen um mich herum noch fröhlicher.

Ich schob es auf das allgemeine Wohlbefinden, verspürte in mir jedoch den Drang, meine Bekannte alsbald wiederzusehen. Ich begann, sie im Gelände zu suchen. Fand sie recht schnell und freute mich umso mehr. Wir unterhielten uns nun ausführlicher und recht schnell bemerkte ich, dass mir eine Frage immer mehr unter den Nägeln brannte. Ich muss dazu sagen, jene Bekannte hat spanische Wurzeln, schwarze halblange Haare und ein sehr gewinnendes Lächeln. Den Duft, den sie trug, hätte ich vorher niemals ihrem Typus zugeordnet. Sie trug ihn jedoch mit einer solchen Nonchalance, dass sie fortan den Inbegriff dessen bildet, was das Tragen eines Parfums für mich mit einem höchst uneitlen und doch exzentrischen Selbstverständnis verbindet.

Ich bemerkte, dass das in mir ausgelöste Gefühl der annähernden Vollkommenheit auch in ihr vorherrschte und sie eine immerwährende Freude ausstrahlte, wissend dass es mir ebenso erging. Sie holte einen kleinen Glasflakon aus ihrer Tasche und sprühte mir einen Spritzer daraus auf jedes meiner Handgelenk.

Zwei Monate später, auf einer Urlaubsreise nach Mauritius, kaufte ich mir im Duty Free diesen Duft. Jedes Mal, wenn ich ihn auftrage, denke ich an jenen Tag im Sommer 2013. Unerwartet und unplausibel, jedoch unvermeidlich.

*entspricht einer rückblickenden, subjektiven Wahrscheinlichkeitsbewertung, im Mittel
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