04.10.2022 - 11:09 Uhr

Axiomatic
131 Rezensionen

Axiomatic
Top Rezension
46
Die helle Säule
Er stand an der Schwelle zu einem neuen Jahrzehnt voller Ungewissheiten.
Er hat die Herausforderungen gemeistert und den Launen der Mode die Stirn geboten.
Er ist immer noch da und hoffentlich für lange Zeit.
Ein komplexer Duft, der schwierig zu fassen ist.
Ein Chypre für Männer, die gegen den Strom schwimmen.
Sein Schöpfer, Roger Pellégrino, hat zwar kein sehr umfangreiches Werkverzeichnis, dafür ist dieses aber umso kostbarer. Seine Schaffenskunst wird noch immer von vielen zurecht hochgehalten, gelten doch seine Kreationen zum Teil als Standardwerke.
Bot er mit Anaïs Anaïs einen der schönsten unschuldigen Damendüfte auf, schaffte er 1980 eine äußerst ungewöhnliche Schöpfung in der Herrensparte. Dank der Weitsicht im Hause Bogart konnte er mit einem fantastischen blumig-würzigen-holzigen Duft aufwarten.
Die Kopfnote ist apart, eröffnet sie doch mit einer geballten Ladung an Floralem.
Galbanum schafft noch eine Verbindung zu den typischen 1970er Chypres, verweilt aber nicht lange. Ein Hauch Ernsthaftigkeit, gepaart mit flüchtigen Agrumen, hier eine zaghafte Bergamotte, läutet den Abschied der vorangegangen Dekade ein.
Was hier neu und ungewöhnlich riecht, sind Mengen an Jasmin, Ylang-Ylang und Palisander, welcher mit etwas Rose noch verstärkt wird. Und dennoch kippt der Duft nicht in eine weiche florale Richtung, etwas Basilikum steuert würzig gegen. Das Rosenholz gibt eine Vorahnung auf den weiteren holzigen Duftverlauf.
Wenn ich mir das Werbeplakat der damaligen Zeit anschaue, wird mir klar, warum hier animalischer Jasmin und Ylang-Ylang großzügig eingesetzt werden. Körperlichkeit in Reinkultur, die entsprechenden Rezeptoren werden angeregt.
Aber der Duft bleibt im anständigen Bereich, keine plumpen Absichten bitte!
Die gelistete Grapefruit schafft die Kontrolle. Sie riecht typisch herb und verbindet sich sogleich mit der Muskatnuss, diese wird reicher an Dufteindrücken.
Der Akkord wird im weiteren Verlauf prägend sein.
Eichenmoos liefert ab hier einen gepflegten, seifigen Eindruck.
In der Herznote gesellen sich schöne, hell gehaltene, balsamische Hölzer zu den Blumen, welche sich dann sanft verabschieden. Alles bleibt lichtdurchflutet, die Farbe des Flakons passt perfekt.
Weiter geht es im Duftverlauf mit der Rinde des Kaskarillabaums.
Die helle Anisnote der Kaskarilla hebt die Herznote und gibt ihr dieses charakteristische saubere, leicht antiseptische Duftmerkmal, sie übernimmt die Führung gegenüber dem Muskat-Grapefruit-Duo, wobei die Zitrusfrucht mehr und mehr verschwindet.
Sandelholz und Zeder bleiben als stille Begleiter im Hintergrund und geben Halt.
Ab hier wird sich der Duft kaum noch verändern. Weihrauch und die anderen Harze sind zu erahnen, spielen sich aber nicht auf.
Im Abklang bleibt alles hell und geschmeidig. Selbst der Patchouli erdet sehr verhalten.
Genau diese Eigenschaften fängt der Flakon auch ein. Zwar bestimmen gerade Linien seine Form, die Ecken sind aber sanft abgerundet worden.
Der hinter einer Plastikummantelung befindliche und drehbare Sprühkopf sorgt seit der Markteinführung immer wieder für Diskussionen, fordert er doch eine gewisse Präzisionsgabe vom Benutzer, um ein unansehnliches Verschütten zu vermeiden.
Der Schriftzug des Namens zwischen ausgedruckten Zeilen ist typisch für den Beginn der 1980er. Hier startet das digitale Zeitalter.
Leider ist die geringe Haltbarkeit und kurzärmelige Sillage zu bemängeln, früher war der Duft stärker. Ein paar Sprühstöße mehr schaden nicht. Beim mehr als fairen Preis sicherlich erträglich.
One Man Show Eau de Toilette bildet zusammen mit Jacomo de Jacomo (1980) Eau de Toilette die Herkulessäulen am Tor zur neuen Dekade, der eine hell, sein Gegenpart dunkel. Sie beide schaffen den maßgeblichen Wechsel.
Unser Held in der folgenden Geschichte legt zunächst den tragbaren Schach-Computer beiseite, die Landung in Orly erfolgt in wenigen Augenblicken. Ermüdet von der durchzechten Nacht zu überdrüssigen Diskoklängen, sehnt er sich nach Klarheit. Der Flug nach Paris stimmt ihn nachdenklich.
Glücklicherweise kann er sich mit einem Walkman abkapseln, er genießt „Video killed the Radio Star“ der Buggles inmitten des üblichen chaotischen Streiks am Flughafen.
Der Anschlussflug nach Lyon gestrichen, die neuartige TGV-Strecke noch nicht in Betrieb, ist er auf ein Mietauto angewiesen. Doch zuvor hat er sich mit dem neuen One Man Show Eau de Toilette eingedeckt und besprüht, die Parfümerie im Flughafen entging der Arbeitsniederlegung.
Erste Computer speichern seine Daten beim Autoverleih, berechnen die Fahrtdauer und bestätigen das gebuchte Hotelzimmer in Lyon, IBM sei dank. Alles verläuft nach Plan und betriebswirtschaftlich wünschenswert.
Doch die Terror-Organisation Action Directe hat im 7. und 8. Arrondissement durch Bombenattentate die Innenstadt lahm gelegt und den Verkehr um Paris fast zum Erliegen gebracht. Jetzt heißt es geduldig warten.
Seinen Auftrag für Nixdorf France in Lyon erledigt er trotz seiner Erschöpfung und Verspätung pflichtbewußt, die Halbleiter wurden rechtzeitig geliefert.
Und nun verfügt er über Zeit, ein paar freie Tage, bis er zurück in die Heimat fliegt.
Lyon sagt ihm nicht zu, also beschließt er weiterzufahren.
Die A7 entlang des Rhone-Tals kennt er auswendig. Etwas apathisch schaltet er das Radio an, France Gall singt „Il jouait du piano debout“. Der Text löst zusammen mit den floralen Noten des Duftes etwas in ihm aus. Hier wird über einen Außenseiter und die gesellschaftliche Ächtung gesungen.
Die monotonen Wohnblöcke entlang des majestätischen Flusses sind der Stein des Anstoßes in seinem Kopf. Warum hat er sich immer so gefügt, so viel unbeantwortet gelassen? Wäre es nicht an der Zeit, genau das zu tun, was ihm beliebt und nicht die erstickende Tradition sein Leben bestimmen lassen?
Auf der Höhe vom wärmeren Montélimar jagt ihn „Making plans for Nigel“ von XTC wie ein Blitz durch den Körper. Die Muskatnuss und das Balsamische beflügeln ihn.
Papa, danke Dir für alles, aber ich werde nicht Deinen Vorstellungen Folge leisten!
Er genießt die befreienden Bässe, die bewegende Musik! Und vor allem die Kaskarilla des Duftes mit ihren heilenden und klaren Eigenschaften.
Allmählich kommt das Autobahndreieck bei Orange immer näher.
Er könnte an die Côte d‘Azur fahren, gediegen an der Croisette in Cannes flanieren und den Schönen und Reichen beim Müßiggang zusehen.
Das kompromisslose Eigenwillige des Duftes läßt ihn aber die A9 in Richtung Montpellier nehmen. Dort kennt er ein paar Leute bei IBM aus früheren Zeiten, Gleichgesinnte.
Und tief in seinem Koffer warten Wranglers, eine schwarze Lederjacke und weiße Adidas auf minimalistische Klänge.
Sein Fahrtziel ist schon fast in Sichtweite, er kann die Étangs, diese salzigen Weiher, riechen.
Bei Palavas-les-Flots kann er nicht mehr, es brennt in ihm. Irgendwie schafft er es, einen Platz am Carnon Plage für sich alleine auszumachen, das Auto hat er zwischen den Pinien-Hainen geparkt. Er atmet die von diesen prächtigen Nadelbäumen durchtränkte Meeresluft ein.
Und dann der Befreiungsschlag!
Joachim Witt singt ihm den Frust von der Seele. „Der goldene Reiter“ läuft ununterbrochen vom Walkman. Er tanzt zur untergehenden Sonne am Mittelmeer mutterseelenallein.
Es gibt kein Zurück mehr, er wird einen anderen Weg einschlagen, überkommene Regeln ignorieren, sein Ding machen.
Und er duftet ungemein gut.
Er hat die Herausforderungen gemeistert und den Launen der Mode die Stirn geboten.
Er ist immer noch da und hoffentlich für lange Zeit.
Ein komplexer Duft, der schwierig zu fassen ist.
Ein Chypre für Männer, die gegen den Strom schwimmen.
Sein Schöpfer, Roger Pellégrino, hat zwar kein sehr umfangreiches Werkverzeichnis, dafür ist dieses aber umso kostbarer. Seine Schaffenskunst wird noch immer von vielen zurecht hochgehalten, gelten doch seine Kreationen zum Teil als Standardwerke.
Bot er mit Anaïs Anaïs einen der schönsten unschuldigen Damendüfte auf, schaffte er 1980 eine äußerst ungewöhnliche Schöpfung in der Herrensparte. Dank der Weitsicht im Hause Bogart konnte er mit einem fantastischen blumig-würzigen-holzigen Duft aufwarten.
Die Kopfnote ist apart, eröffnet sie doch mit einer geballten Ladung an Floralem.
Galbanum schafft noch eine Verbindung zu den typischen 1970er Chypres, verweilt aber nicht lange. Ein Hauch Ernsthaftigkeit, gepaart mit flüchtigen Agrumen, hier eine zaghafte Bergamotte, läutet den Abschied der vorangegangen Dekade ein.
Was hier neu und ungewöhnlich riecht, sind Mengen an Jasmin, Ylang-Ylang und Palisander, welcher mit etwas Rose noch verstärkt wird. Und dennoch kippt der Duft nicht in eine weiche florale Richtung, etwas Basilikum steuert würzig gegen. Das Rosenholz gibt eine Vorahnung auf den weiteren holzigen Duftverlauf.
Wenn ich mir das Werbeplakat der damaligen Zeit anschaue, wird mir klar, warum hier animalischer Jasmin und Ylang-Ylang großzügig eingesetzt werden. Körperlichkeit in Reinkultur, die entsprechenden Rezeptoren werden angeregt.
Aber der Duft bleibt im anständigen Bereich, keine plumpen Absichten bitte!
Die gelistete Grapefruit schafft die Kontrolle. Sie riecht typisch herb und verbindet sich sogleich mit der Muskatnuss, diese wird reicher an Dufteindrücken.
Der Akkord wird im weiteren Verlauf prägend sein.
Eichenmoos liefert ab hier einen gepflegten, seifigen Eindruck.
In der Herznote gesellen sich schöne, hell gehaltene, balsamische Hölzer zu den Blumen, welche sich dann sanft verabschieden. Alles bleibt lichtdurchflutet, die Farbe des Flakons passt perfekt.
Weiter geht es im Duftverlauf mit der Rinde des Kaskarillabaums.
Die helle Anisnote der Kaskarilla hebt die Herznote und gibt ihr dieses charakteristische saubere, leicht antiseptische Duftmerkmal, sie übernimmt die Führung gegenüber dem Muskat-Grapefruit-Duo, wobei die Zitrusfrucht mehr und mehr verschwindet.
Sandelholz und Zeder bleiben als stille Begleiter im Hintergrund und geben Halt.
Ab hier wird sich der Duft kaum noch verändern. Weihrauch und die anderen Harze sind zu erahnen, spielen sich aber nicht auf.
Im Abklang bleibt alles hell und geschmeidig. Selbst der Patchouli erdet sehr verhalten.
Genau diese Eigenschaften fängt der Flakon auch ein. Zwar bestimmen gerade Linien seine Form, die Ecken sind aber sanft abgerundet worden.
Der hinter einer Plastikummantelung befindliche und drehbare Sprühkopf sorgt seit der Markteinführung immer wieder für Diskussionen, fordert er doch eine gewisse Präzisionsgabe vom Benutzer, um ein unansehnliches Verschütten zu vermeiden.
Der Schriftzug des Namens zwischen ausgedruckten Zeilen ist typisch für den Beginn der 1980er. Hier startet das digitale Zeitalter.
Leider ist die geringe Haltbarkeit und kurzärmelige Sillage zu bemängeln, früher war der Duft stärker. Ein paar Sprühstöße mehr schaden nicht. Beim mehr als fairen Preis sicherlich erträglich.
One Man Show Eau de Toilette bildet zusammen mit Jacomo de Jacomo (1980) Eau de Toilette die Herkulessäulen am Tor zur neuen Dekade, der eine hell, sein Gegenpart dunkel. Sie beide schaffen den maßgeblichen Wechsel.
Unser Held in der folgenden Geschichte legt zunächst den tragbaren Schach-Computer beiseite, die Landung in Orly erfolgt in wenigen Augenblicken. Ermüdet von der durchzechten Nacht zu überdrüssigen Diskoklängen, sehnt er sich nach Klarheit. Der Flug nach Paris stimmt ihn nachdenklich.
Glücklicherweise kann er sich mit einem Walkman abkapseln, er genießt „Video killed the Radio Star“ der Buggles inmitten des üblichen chaotischen Streiks am Flughafen.
Der Anschlussflug nach Lyon gestrichen, die neuartige TGV-Strecke noch nicht in Betrieb, ist er auf ein Mietauto angewiesen. Doch zuvor hat er sich mit dem neuen One Man Show Eau de Toilette eingedeckt und besprüht, die Parfümerie im Flughafen entging der Arbeitsniederlegung.
Erste Computer speichern seine Daten beim Autoverleih, berechnen die Fahrtdauer und bestätigen das gebuchte Hotelzimmer in Lyon, IBM sei dank. Alles verläuft nach Plan und betriebswirtschaftlich wünschenswert.
Doch die Terror-Organisation Action Directe hat im 7. und 8. Arrondissement durch Bombenattentate die Innenstadt lahm gelegt und den Verkehr um Paris fast zum Erliegen gebracht. Jetzt heißt es geduldig warten.
Seinen Auftrag für Nixdorf France in Lyon erledigt er trotz seiner Erschöpfung und Verspätung pflichtbewußt, die Halbleiter wurden rechtzeitig geliefert.
Und nun verfügt er über Zeit, ein paar freie Tage, bis er zurück in die Heimat fliegt.
Lyon sagt ihm nicht zu, also beschließt er weiterzufahren.
Die A7 entlang des Rhone-Tals kennt er auswendig. Etwas apathisch schaltet er das Radio an, France Gall singt „Il jouait du piano debout“. Der Text löst zusammen mit den floralen Noten des Duftes etwas in ihm aus. Hier wird über einen Außenseiter und die gesellschaftliche Ächtung gesungen.
Die monotonen Wohnblöcke entlang des majestätischen Flusses sind der Stein des Anstoßes in seinem Kopf. Warum hat er sich immer so gefügt, so viel unbeantwortet gelassen? Wäre es nicht an der Zeit, genau das zu tun, was ihm beliebt und nicht die erstickende Tradition sein Leben bestimmen lassen?
Auf der Höhe vom wärmeren Montélimar jagt ihn „Making plans for Nigel“ von XTC wie ein Blitz durch den Körper. Die Muskatnuss und das Balsamische beflügeln ihn.
Papa, danke Dir für alles, aber ich werde nicht Deinen Vorstellungen Folge leisten!
Er genießt die befreienden Bässe, die bewegende Musik! Und vor allem die Kaskarilla des Duftes mit ihren heilenden und klaren Eigenschaften.
Allmählich kommt das Autobahndreieck bei Orange immer näher.
Er könnte an die Côte d‘Azur fahren, gediegen an der Croisette in Cannes flanieren und den Schönen und Reichen beim Müßiggang zusehen.
Das kompromisslose Eigenwillige des Duftes läßt ihn aber die A9 in Richtung Montpellier nehmen. Dort kennt er ein paar Leute bei IBM aus früheren Zeiten, Gleichgesinnte.
Und tief in seinem Koffer warten Wranglers, eine schwarze Lederjacke und weiße Adidas auf minimalistische Klänge.
Sein Fahrtziel ist schon fast in Sichtweite, er kann die Étangs, diese salzigen Weiher, riechen.
Bei Palavas-les-Flots kann er nicht mehr, es brennt in ihm. Irgendwie schafft er es, einen Platz am Carnon Plage für sich alleine auszumachen, das Auto hat er zwischen den Pinien-Hainen geparkt. Er atmet die von diesen prächtigen Nadelbäumen durchtränkte Meeresluft ein.
Und dann der Befreiungsschlag!
Joachim Witt singt ihm den Frust von der Seele. „Der goldene Reiter“ läuft ununterbrochen vom Walkman. Er tanzt zur untergehenden Sonne am Mittelmeer mutterseelenallein.
Es gibt kein Zurück mehr, er wird einen anderen Weg einschlagen, überkommene Regeln ignorieren, sein Ding machen.
Und er duftet ungemein gut.
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