Jean-Louis Scherrer 1979 Eau de Toilette

Gaukeleya
12.01.2021 - 07:52 Uhr
62
Top Rezension
7
Flakon
8
Sillage
9
Haltbarkeit
9
Duft

Magnolie aus Stahl

Blassgrün, ohne eine Spur von Braun, so schreibt Margaret Mitchell, seien Scarlett O´Haras Augen gewesen. Diese Augen, die Männer reihenweise um den Verstand brachten und Scarletts Charakter symbolisierten: temperamentvoll und lebenslustig, aber auch berechnend bis kalt, wenn es ihrem Vorteil dienlich war; unabhängig, stark und zäh. Vordergründig eine lieblich-hübsche Südstaatenmagnolie - aber aus dem berühmten Stahl.

Für damalige Zeiten unerhört unziemlich, kann man Scarlett wohl geradezu als emanzipiert bezeichnen, obwohl es dieses Wort damals wohl so noch nicht gab (bitte, Sprachwissenschaftler herbei!). Der einzige Mann, der ihrer Stärke und Energie gewachsen ist, sie auch gerade deshalb bewundert (und, nun ja, liebt), ist Rhett Butler (leider verschmäht sie ihn so lange, bis es zu spät ist für ein Happy End, wie wir alle wissen).

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Wenn ich Scherrer schnuppere, sehe ich Scarletts Schillern in ihren katzenartigen Augen. Das Grün, welches in diesem Duft den Ton angibt, ist ein klares, kristallines, sirenenhaftes Grün. Ein je nach Blick- bzw. Schnupperwinkel sich in hunderte, strahlende Facetten aufspaltendes Grün. Mineralien, Stein, vor allem aber die scharfen Kanten eines geschliffenen Smaragds und irgendetwas Leuchtendes, wird von meiner Olfaktorie hier zu einem visuellen Eindruck verarbeitet.

Die Zitrusnote, mit der Scherrer auftaktet, gehört für mich zu der schönsten, die ich jemals gerochen habe. Sie ist nicht zu herb oder sauer, sondern bildet das erste feinziselierte Gerüst des grünen Hauptcharakters. Diese Klarheit ist extrem elegant und edel, und zwar ohne den von mir gefürchteten madamigen, strengen Unterton, der mir Chypres sehr häufig schwierig und abweisend macht. Scherrer bewahrt sich zudem eine schwebende Leichtfüssigkeit, man könnte auch sagen, einen sanguinischen Charakter.

Dies dann auch erstaunlichweise im weiteren Verlauf, in dem sich behutsam das Eichenmoos wie eine ultraleichte, fluffige Wolldecke unter den Duft legt. Samtiger wird er, ohne dass er etwas von seiner Klarheit einbüßt. Wärmer, fast fellig, ohne dass der Duft überwarm, stickig oder gar süss erscheint. Gemütlich, cosy oder "hygge" ist hier nichts.

Ich schnuppere bald auch eine gewisse humanoide Schmutz/Schweissnote, nicht so brachial wie bei Piguets Bandit, aber doch in diese Richtung gehend. Dies gibt Scherrer einen leicht impertinenten Twist ins Erogene und rundet die gesamte Komplexität des Duftes gekonnt ab.

Ob Scarlett diesen Duft getragen hätte, wäre er damals schon verfügbar gewesen - wer weiss. Wenn ich meiner Phantasie freien Lauf lasse, so stelle ich mir Scarlett ausgezeichnet als "Testimonial" für Scherrer vor: ihre Kühle, hinter der das Feuer brennt, ihre Grazilität und Eleganz, ihre Stärke, ihre Selbständigkeit, ihre Leidenschaft und auch ihre gewisse Unanständigkeit bilden sich für mich in diesem Duft ab.

Dass er sich dabei aber stets eine kleine Koboldhaftigkeit und Leichtfüssigkeit bewahrt, macht ihn für mich persönlich zu einem zeitlosen Meisterwerk der Parfumgeschichte und nicht nur tragbar für mich selbst (als Chyprefeigling), sondern auch zu meiner persönlichen (späten) Duftentdeckung des vergangenen Jahres 2020.
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