MonsieurTest
21.11.2022 - 17:47 Uhr
51
Top Rezension
10
Preis
9
Flakon
8
Sillage
8
Haltbarkeit
8
Duft

Was Manuel Neuer nicht tragen darf: Grundgut grünes Neochypre mit lila Blüten

Feinzitriertes Veilchenblatt eröffnet helle Räume für ein Flieder-Magnolienbouquet. Eine gut aufgestellte, cremigweiche Viererkette aus Hölzern, Vetiver, Eichenmoos und Ambrettesamen sorgt für ein stabiles Fundament. Das sauber strahlende Ganze macht einen edlen, leicht kühlen (näherhin: erhabenen, sanft distanzierten) Eindruck – wie es sich für einen großen Scherrer Duft gehört. Denn kühlere grüne Schönheit als das (in unseren Kreisen) berühmte erste Scherrer Parfum lässt sich kaum denken.
Safran gibt dem ganzen einen minimalwürzigen Kick. One Love ist mithin ein würdiger Nachfahr, gleichsam Next Generation zu Scherrer und Scherrer 2, den strahlenden Helden der 80er Jahre. Das Allerschönste ist, dass diese qualitativ hochwertigen Düfte allesamt im Netz für bescheidene Beträge verkauft werden. Viel Parfumkunst für wenig Kohle. DAS ist doch wahrhaftig eine verlockende Nische im großen Parfumbusiness.

Bei Parfumo ist es bekanntlich alter Brauch, über die IFRA zu schimpfen, weil sie es mit immer neuen Allergie- und Gesundheitsvorschriften schwer macht, die guten alten Düfte, die klassischen Fougères und Chypres etwa, fein und wiedererkennbar für die Gegenwart am Leben zu halten.

Heute wollen wir mal nicht über die IFRA schimpfen. Heute wollen wir über die FIFA fluchen. Im Namen der Liebe, im Namen von One Love wollen wir dies tun. Im Namen dieses gelungenen Neo-Chypres – auch wenn das grüne Fundament hier eher von gut verbautem Vetiver als von einem lauten Eichenmoos Bass gebildet wird.

‚1 Love‘ - gedruckt auf einer leicht abgewandelten Regenbogen-Fahne - sollte auf der Kapitänsbinde der westeuropäischen Fussball-Nationalmannschaften stehen beim gerade laufenden FIFA World Cup in Katarrh. ‚1 Love‘ als Protest gegen die Diskriminierung und Unterdrückung von Schwulen, Lesben und Transsexuellen. ‚One Love‘ als Mahnung gegen die massive Ungleichbehandlung und Ausbeutung von Arbeitsmigranten. ‚1 Love‘ auf dem Regenbogen hätte mehr als berechtigte, überfällige Forderungen und Respekt zum Ausdruck gebracht.
Doch die FIFA hat das Tragen dieser Symbole auf dem Spielfeld verboten. So viel Gleichberechtigung möchte Herr Infantino seinen autoritären Gastgebern und seinen reaktionären Wahlmännern bei der FIFA Vollversammlung offenbar nicht zumuten. Zum Schreien, zum Lachen, zum Wegzappen oder gar nicht erst Einschalten ist das.

Was Manuel Neuer nicht um den Arm tragen darf, tragen wir auf demselben. Und tragen dazu noch ein wenig vor zu Thomas Fontaines Werk, von dem wir nicht wissen, warum gerade DIESES Parfum DIESEN schönen Namen bekam. Aber Parfum-Namen sind eh ein Buch mit 77 schwer zu öffnenden Siegeln (vgl. dazu Vorstudien in meinem Kommentar zu Trussardis ‚Scent of Gold‘ ;-).

Mit seinem insgesamt doch recht seifig sauberen Duftcharakter dreht es sich bei diesem Parfum jedenfalls nicht um die animalische, schwitzend sich wälzende körperliche Liebe. Es geht hier eher um neoplatonische Liebe. Um den nach Vollkommenheit strebenden Eros; wenn Sex, dann allenfalls Blümchen-Sex. Um die wohlproportionierte Schönheit von harmonisch montierten Zitrusfrüchten, Blumen, Hölzern und Würzgras.

Wenn ich schon nicht dahinterkomme, was sich Lizenzgeber Scherrer (ein Ex-Tänzer und Modemacher, der als Assistent neben Yves Saint Laurent bei Dior anfing und dann in den 60ies sein eigenes Modehaus aufbaute) oder seine Parfummacher- und Vertriebsgehilfen bei der Namensgebung gedacht haben, dann nutzen wir diesen suggestiven Namen doch einfach für eine kleine Liebeserklärung an den Parfumeur: an Thomas Fontaine, der für One Love verantwortlich zeichnet.
Denn es sind ja in Wirklichkeit diese ‚Nasen‘ (meist als gut ausgebildete Angestellte bei einem der großen Duftstoffhersteller), die Parfüme erfinden. Die namensgebenden Designer im Verbund mit den Marketing Teams der Kosmetik-Vertriebsfirmen wählen dann bloß noch aus den vorgelegten Kompositionen der Duftlabor-Orgler, denen sie vorher im Pitch nur die grobe Richtung anwiesen, aus.

Verliebt habe ich mich in Thomas Fontaines Duftmischer-Genie, seine geschmackvolle Nase, durch die von ihm verantwortete ‚Collection Heritage‘ von Jean Patou. Dort hat er, in die groooßen Schuhe seiner Vorgänger Henri Alméras und Jean Kerléos steigend, eine Reihe von Patou Düften aus den 20er bis 70er Jahren sehr schön rekonstruiert. Wir wollen hier nicht verschweigen, dass er für die Patou Düfte vermutlich über ein etwas größeres Budget im Hinblick auf verwendbare Rohstoffe verfügte. Jedenfalls duften in meiner Nase seine Kompositionen für Patou noch wertvoller oder 'tiefer' als diese Arbeit für Scherrer, die etwas synthetischer, greller, günstiger und heutiger wirkt als seine (leider ja schon wieder verstorbenen) Patou-Revivals. Die wiesen jene milchige Verschliffenheit, jene eingebaute Patina auf, welche auch die alten Guerlains so auserwählt edel wirken lassen.

Diese meist meisterlich gelungenen Rekonstruktionen klassischer Patou Düfte dürften Fontaine wohl den Auftrag eingebracht haben, für Le Galion - also jenes von Paul Vacher geprägte französische Parfumhaus, das kaum weniger glanzvolle Kreationen in seiner Backlist stehen hat - erneut ein Dutzend alter Düfte wiederzubeleben. Die Neufassungen des Hauses Le Galion kenne ich leider noch nicht, bin aber sehr gespannt auf diese neueren Taten Fontaines.

One Love hieße, so gewendet: Es sollte doch irgendwie möglich sein, auch unter (verständlich strengen) IFRA Allergievorschriften, die Eichenmoos und viele andere klassischen Zutaten verbieten, Parfums im Stil der großen, samtig weichen, tiefen doch rund geschliffenen Düfte der klassischen Moderne wiederzubeleben und in der Welt zu halten. One Love mithin als Respekt gegenüber den großen Kunstwerken der kreativen Vorfahren: eines Henri Almeras, Jean Kerléos oder Paul Vachers – oder auch eines Bernard Chant, einer Germaine Cellier und der Roudnitzkas – deren Erbe freilich woanders mehr oder weniger glücklich gepflegt wird.

Scherrers wunderbare ersten beiden Düfte sind bei Parfumo völlig zu Recht sehr hoch angesehen – wiewohl sie in den einschlägigen Offline Parfumbibeln, Luca Turins ‚Perfumes. The A-Z Guide‘, und Elisabeth Feydeaus monumentaler Enzyklopädie ‚Les Parfums. Histoire – Anthologie - Dictionnaire‘ seltsamerweise gar nicht vorkommen.
Am Beispiel Scherrers (oder auch an der Würdigung Toscas als Parfum) findet man Belege, dass es eine Überlegenheit der Schwarm-Intelligenz durchaus auch im Bereich des Ästhetischen oder Kunsthandwerklichen geben kann. Parfumo machts möglich.

Bei den beiden ersten, herausragenden Scherrer Düften von 1979 und 1986 wissen wir nicht, welcher Parfumeur für sie verantwortich zeichnete. Womöglich waren es Teams bei einem der großen Duftliferanten (IFF, Givaudan, Symrise…).
One Love ist nicht nur ein seifig cremig intoniertes Neochypre, das mit einigen neu eingewechselten Blumen (anstelle der alten Recken Rose, Nelke, Jasmin) bunt leuchtet. Es ist auch ein Autorenparfum aus der Feder des tüchtigen Thomas Fontaine, der hier die herrlich kristalline Eleganz der Parfum-Handschrift des Hauses Scherrers aufnahm und in die Gegenwart fortschrieb.

Dass diesen gut haltbaren, angenehm (moderat) projizierenden Duft nicht nur Frauen tragen können sondern Junge und Alte jeglicher geschlechtlichen oder stilistischen Konfession, muss hier wohl nicht ausführlich erklärt werden.

One Love geht und gilt für mich, für Dich, für alle. Und es hilft sogar bei mittelschweren katarrhischen Verstimmungen... :-).
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