Replica - Lipstick On 2015

Verbena
10.02.2017 - 12:34 Uhr
68
Top Rezension
9
Flakon
8
Sillage
9
Haltbarkeit
7.5
Duft

… einen Hauch weit entfernt von damenhafter Eleganz

An manchen Tagen tut sie es. An Tagen, an denen die Erinnerung übermächtig wird. Sie setzt sich an ihren alten Schminktisch und betrachtet sich im Spiegel, sieht ihr eingefallenes Gesicht und ihre müden wasserblauen Augen. Dann greift sie zu Tiegeln und Quasten und trägt Theaterschminke, Puder, Rouge und Lippenstift auf. Es mag etwas zu dick und schrill sein, aber ihre Augen sind längst nachsichtiger geworden. Einige ihrer alten Bühnenkostüme hat sie aufgehoben, auch wenn sie ihr nicht mehr passen. Zu viel Likör und Pralinen, um die Dunkelheit in ihrem Herzen zu beschwichtigen. Manchmal hält sie eines der wallenden Gewänder vor ihre Brust und dreht sich zaghaft vor dem Spiegel. Und immer noch hat sie – drapiert in einer kitschigen Vase – stets Blumen auf der Kommode zu stehen, so wie sie einst auch ihre Garderobe zierten. Sie hatte es immer gemocht, wie sich die Aromen von Lippenstift und süßem Puder mit dem berauschenden Duft der Blüten verbanden.

Ihr Blick wandert zu der alten gerahmten Fotografie. Er war die Liebe ihres Lebens – ihr Ehemann, ihr Geliebter und Freund, ihr steter Begleiter und Beschützer, ihr Fels und ihre Inspiration. Sie war glücklich und geborgen bei ihm, niemals divenhaft, denn sie wollte immer nur das Mädchen an seiner Seite sein. Die Ehe blieb kinderlos, dieses eine Opfer hatten sie beide der Bühne dargebracht. Sie hatte nichts vermisst – damals. Bis zu dem Tag, an dem er sie allein ließ. Ganz plötzlich nach einem Herzinfarkt. Ein Riss in ihrem Leben, so tief, dass er niemals heilen würde. Danach war ihre Stimme so brüchig geworden wie ihre zurückgelassene Seele. Sie schloss alle Türen hinter sich und kehrte der Bühne den Rücken. Das Geld reichte für ein bescheidenes Auskommen. Sie mochte ja ohnehin keine Verschwendung. So viele Jahre her. Sie verlässt nur noch selten die Wohnung für kurze Spaziergänge. Die Welt vor ihrem Fenster ist schon lange nicht mehr die ihre.

Das Geräusch des Schlüssels in der Wohnungstür reißt sie aus ihren Gedanken. Es ist die Schwester vom Pflegedienst. Sie kommt wie immer noch einmal am späten Nachmittag vorbei, um nach dem Rechten zu sehen. Dieses junge Ding, so unverbindlich freundlich, so eifrig und dienstbeflissen, zweifellos professionell. Wenigstens erledigt sie gewissenhaft die Einkäufe und bringt ihr auch jede Woche Blumen mit, wenn sie sie darum bittet. Ein bisschen Hilfe braucht sie ja schon, zu müde sind ihre alten Knochen und ächzenden Gelenke inzwischen. Man sollte nicht undankbar sein. Also erträgt sie geduldig das muntere Geplapper, das stets unweigerlich ihren Tagtraum unterbricht.

Jetzt ist es wieder still in der Wohnung. Nur die antike Standuhr tickt zuverlässig und gleichmäßig wie immer. Sie blickt aus dem Fenster. Draußen taumelt das Herbstlaub hinunter auf den feucht glänzenden Gehsteig. Die Dämmerung kommt früh in dieser späten Jahreszeit. Heute Abend ist ihr nicht danach, den Fernseher einzuschalten. Nein, heute hat sie sich zurechtgemacht. Die Schminke so dick wie die klobigen Ringe. Der Lidstrich nachgezogen. Grelle Lippen. Sie will wieder träumen von damals, als die Bühne noch ihr gehörte. In vergilbten Fotoalben blättern, die alten Arien hören. Die Blumenvase hat sie von der Kommode geholt und auf den kleinen runden Teetisch gestellt. Mit leicht zitternden Händen legt sie eine Schallplatte auf.

Lange sitzt sie da, in seinem alten Sessel, von dem sie sich nie hatte trennen können. Die Musik ist längst verklungen. Eigentlich sollte sie aufstehen, um die Schallplatte umzudrehen. Sie wird es tun, aber nicht sofort. Sie schließt die Augen und lauscht dem gleichmäßigen Rhythmus der unermüdlichen Pendeluhr. Ich will träumen, ja.

Sie muss kurz eingenickt sein. Wann hat die Uhr aufgehört zu ticken? Sie muss vergessen haben, sie heute aufzuziehen. Nie zuvor ist ihr das passiert. Helles warmes Licht dringt durch ihre geschlossenen Lider. Sie kann doch unmöglich bis zum Morgen geschlafen haben.

Dieser Duft. Er ist immer noch da, sogar stärker als zuvor. Pudrige Vanille, staubgeborene Iris, die den Reigen der anderen Blüten anführt, cremiger Lippenstift, weich und süß abgerundet, ein wenig übertrieben, ein bisschen kitschig. Vollmundige Opulenz, bisweilen unterbrochen von beinahe mädchenhaften Momenten aus fruchtigem Kirschrot. Immer einen Hauch weit entfernt von damenhafter Eleganz. Wie passend. Fast hätte sie gekichert.

Jemand nimmt ihre Hand. Es muss die Pflegeschwester sein. Sie hat ihr wohl etwas gegen die Schmerzen gegeben, denn schon lange hat sie sich nicht mehr so leicht und unbeschwert gefühlt. Bitte lasst mich weiterträumen.

Geflüsterte Worte dringen an ihr Ohr, eine Männerstimme so warm und vertraut. Sie seufzt ergeben und öffnet langsam die Augen. Er kniet vor ihr. Es ist seine Hand, die die ihre hält. Jungenhafte Freude blitzt in seinen Augen und unendliche Liebe. Er ist so jung. Seine kastanienbraunen vollen Locken glänzen im Licht. Er beugt sich zu ihr, streichelt sanft ihre Wange und küsst sie zärtlich auf die Stirn. „Du bist da.“ Sein Lächeln verschmilzt mit ihrem Lächeln. Er hat die Bühne für sie bereitet.

Sie schläft nicht mehr, und sie träumt nicht länger. Sie ist zu Hause. Sie weiß es.
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