19.01.2015 - 07:57 Uhr

Yatagan
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Yatagan
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Phänomenologie der Zitrone
Es gibt eine Duftlinie am Rande des Duftuniversums, die eine intensive, fruchtige, etwas dunkle Zitrone mit einer leicht animalisch wirkenden Note in den Mittelpunkt stellt. Zitrone mit Fleisch ist meine Assoziation.
Dazu gehören Düfte wie Citrus Paradisi von Czech & Speake, Spiced Limes von Crown (bzw. in etwas schwächerer Variante vom Nachlassverwalter Anglia), im Grunde sogar Eau Sauvage (dessen Name ja auch in diesem Sinne gedeutet werden könnte: sauvage als animalisch wild), Eau de Patou (in der Originalfassung), Loewe para hombre (pour homme wie es nun heißt), Moustache von Rochas oder Pour Homme von YSL. Allen diesen Düften ist eine Moschus-Moos-Basis gemein, gelegentlich übernimmt auch Patchouli oder Sandelholz die Rolle einer der beiden zuvor Genannten und kontrastiert in eigentümlicher Weise und mit einem süßen (animalischen) Unterton mit der sauer-herben Zitrone.
Auch Grain de Plaisir gehört für mich in diese Kategorie, ist jedoch anders aufgebaut und dennoch oder gerade deshalb ein besonders schöner Vertreter dieser Richtung. Die stabile Basis bildet hier neben dem oben erwähnten Moschus Mastixharz und Tanne-Absolue, eine dunkelgrün-harzige Komponente, die ich ohnehin besonders liebe, auch wenn sie für ungeübte Nasen zunächst sehr gewöhnungsbedürftig erscheint. Raffiniert erscheint mir hier auch der zusätzliche Einsatz von Sandelholz, das bei entsprechender Dosierung gelegentlich eine fast animalisch-süßlich-milchige Wärme verströmen kann. Angeblich soll die besondere Wirkung von Sandelholz sogar wissenschaftlich erwiesen sein: es dufte wie ein männliches Hormon... Warum auch immer: Sandelduft hat eine erotische Komponente.
Eine spannende und im Kontext der fleischigen Basis geradezu eigenwillig erscheinende Kombination ist zudem die Mischung aus Zitrone und Minze in der Kopfnote, die ich für einen eleganten Kniff bei hesperidischen Colognes halte, denn obwohl beide Akzente hell und frisch sind, vertragen sie sich nicht ganz und gar harmonisch, sondern erzeugen wiederum eine latente Spannung, die bei Düften erst den eigentlichen, aber eigenwilligen Reiz für Liebhaber ausmacht. Das sind keine Düfte fürs Mainstreamregal, nicht einmal Düfte fürs derzeit angesagte Nischensegment, sondern Colognes für Liebhaber extravaganter Noten.
Natürlich ist das Ganze nicht halb so verschroben, wie es klingen mag, sondern eher ein leiser Vertreter der schrägen Töne, vergleichbar mit einer stillen, weniger schrillen Komposition zeitgenössischer Musik: Luigi Nono etwa.
Im Sinne der Philosophie von Hegel könnte man diesen Duft als den Versuch beschreiben, Ungreifbares in Greifbares zu überführen. Die leisen Töne (Zitrone, Lavendel, Minze, Aldehyde) werden zu Fleisch (Animalisches, Moschus, Harz und: Sandelholz), überführen Gegensätze ineinander und lösen damit eine Spannung dialektisch zu einem Höheren auf. Der Duft bleibt quasi ständig zwischen zwei Polen und irisiert zwischen Einheit und innerem Widerspruch.
Meines Erachtens ist gerade das die Stärke von guten Düfte, dass sie keine vollkommene Harmonie, sondern die geschickte Zusammenführung von Gegensätzen darstellen, die in einer Balance gehalten werden, die weder die eine noch die andere Komponente die Überhand gewinnen lassen.
Im vorliegenden Falle ist das, - ich muss es noch einmal wiederholen -, weniger spektakulär als es zu sein scheint. Im Gegenteil ist ja auch gerade das Geheimnis vieler guter Düfte, dass sie die leisen Töne anschlagen und dennoch zu überraschen vermögen: Philosophie statt Demagogie, klassisches Drama statt Thriller.
Mit Verlaub: viele moderne Düfte, dazu gehören für mich auch viele (natürlich keineswegs alle) wuchtig-orientalischen Düfte, lassen gerade diese dialektische Balance zwischen Polen vermissen. Sie sind laut und eindeutig, gelegentlich brachial: das kann man den Düften von Maitre Parfumeur et Gantier sicherlich nicht vorwerfen. Sie setzen eine längere Auseinandersetzung mit ihren Kompositionen voraus, wissen nicht gleich zu gefallen.
Um noch einmal auf einzelne Komponenten zurück zu kommen: Die Existenz etliche der angegebenen Duftnoten kann ich mir einbilden, wenn ich von ihnen weiß: Selleriesamen, Aldehyde (mir nicht einleuchtend), selbst Vetiver bleibt vollkommen unscheinbar im Hintergrund. Klar erkennbar sind sie m.E. nicht.
Dennoch: vielleicht sind es gerade die unscheinbaren Töne, die im Gesamtkonzert für die perfekte, oben beschriebene Balance und Spannung zugleich, die dialektische Aufhebung der Gegensätze im Diskurs der Duftnoten zu einem höheren Ganzen - besser sogar als bei den oben Aufgezählten - verantwortlich sind.
Alles in allem nennt man das große Kunst.
P.S.: Für die Anregung zur Überschrift danke ich Stefanu155 ;)
Dazu gehören Düfte wie Citrus Paradisi von Czech & Speake, Spiced Limes von Crown (bzw. in etwas schwächerer Variante vom Nachlassverwalter Anglia), im Grunde sogar Eau Sauvage (dessen Name ja auch in diesem Sinne gedeutet werden könnte: sauvage als animalisch wild), Eau de Patou (in der Originalfassung), Loewe para hombre (pour homme wie es nun heißt), Moustache von Rochas oder Pour Homme von YSL. Allen diesen Düften ist eine Moschus-Moos-Basis gemein, gelegentlich übernimmt auch Patchouli oder Sandelholz die Rolle einer der beiden zuvor Genannten und kontrastiert in eigentümlicher Weise und mit einem süßen (animalischen) Unterton mit der sauer-herben Zitrone.
Auch Grain de Plaisir gehört für mich in diese Kategorie, ist jedoch anders aufgebaut und dennoch oder gerade deshalb ein besonders schöner Vertreter dieser Richtung. Die stabile Basis bildet hier neben dem oben erwähnten Moschus Mastixharz und Tanne-Absolue, eine dunkelgrün-harzige Komponente, die ich ohnehin besonders liebe, auch wenn sie für ungeübte Nasen zunächst sehr gewöhnungsbedürftig erscheint. Raffiniert erscheint mir hier auch der zusätzliche Einsatz von Sandelholz, das bei entsprechender Dosierung gelegentlich eine fast animalisch-süßlich-milchige Wärme verströmen kann. Angeblich soll die besondere Wirkung von Sandelholz sogar wissenschaftlich erwiesen sein: es dufte wie ein männliches Hormon... Warum auch immer: Sandelduft hat eine erotische Komponente.
Eine spannende und im Kontext der fleischigen Basis geradezu eigenwillig erscheinende Kombination ist zudem die Mischung aus Zitrone und Minze in der Kopfnote, die ich für einen eleganten Kniff bei hesperidischen Colognes halte, denn obwohl beide Akzente hell und frisch sind, vertragen sie sich nicht ganz und gar harmonisch, sondern erzeugen wiederum eine latente Spannung, die bei Düften erst den eigentlichen, aber eigenwilligen Reiz für Liebhaber ausmacht. Das sind keine Düfte fürs Mainstreamregal, nicht einmal Düfte fürs derzeit angesagte Nischensegment, sondern Colognes für Liebhaber extravaganter Noten.
Natürlich ist das Ganze nicht halb so verschroben, wie es klingen mag, sondern eher ein leiser Vertreter der schrägen Töne, vergleichbar mit einer stillen, weniger schrillen Komposition zeitgenössischer Musik: Luigi Nono etwa.
Im Sinne der Philosophie von Hegel könnte man diesen Duft als den Versuch beschreiben, Ungreifbares in Greifbares zu überführen. Die leisen Töne (Zitrone, Lavendel, Minze, Aldehyde) werden zu Fleisch (Animalisches, Moschus, Harz und: Sandelholz), überführen Gegensätze ineinander und lösen damit eine Spannung dialektisch zu einem Höheren auf. Der Duft bleibt quasi ständig zwischen zwei Polen und irisiert zwischen Einheit und innerem Widerspruch.
Meines Erachtens ist gerade das die Stärke von guten Düfte, dass sie keine vollkommene Harmonie, sondern die geschickte Zusammenführung von Gegensätzen darstellen, die in einer Balance gehalten werden, die weder die eine noch die andere Komponente die Überhand gewinnen lassen.
Im vorliegenden Falle ist das, - ich muss es noch einmal wiederholen -, weniger spektakulär als es zu sein scheint. Im Gegenteil ist ja auch gerade das Geheimnis vieler guter Düfte, dass sie die leisen Töne anschlagen und dennoch zu überraschen vermögen: Philosophie statt Demagogie, klassisches Drama statt Thriller.
Mit Verlaub: viele moderne Düfte, dazu gehören für mich auch viele (natürlich keineswegs alle) wuchtig-orientalischen Düfte, lassen gerade diese dialektische Balance zwischen Polen vermissen. Sie sind laut und eindeutig, gelegentlich brachial: das kann man den Düften von Maitre Parfumeur et Gantier sicherlich nicht vorwerfen. Sie setzen eine längere Auseinandersetzung mit ihren Kompositionen voraus, wissen nicht gleich zu gefallen.
Um noch einmal auf einzelne Komponenten zurück zu kommen: Die Existenz etliche der angegebenen Duftnoten kann ich mir einbilden, wenn ich von ihnen weiß: Selleriesamen, Aldehyde (mir nicht einleuchtend), selbst Vetiver bleibt vollkommen unscheinbar im Hintergrund. Klar erkennbar sind sie m.E. nicht.
Dennoch: vielleicht sind es gerade die unscheinbaren Töne, die im Gesamtkonzert für die perfekte, oben beschriebene Balance und Spannung zugleich, die dialektische Aufhebung der Gegensätze im Diskurs der Duftnoten zu einem höheren Ganzen - besser sogar als bei den oben Aufgezählten - verantwortlich sind.
Alles in allem nennt man das große Kunst.
P.S.: Für die Anregung zur Überschrift danke ich Stefanu155 ;)
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