Zuerst dachte ich: Igitt, ein Aquate!
Eigentlich hasse ich Aquaten. Wer zu einer “Cool Water“-geschädigten Generation gehört, wie ich, wird das vermutlich kennen. Dabei ist “Cool Water“ kein schlechter Duft, überhaupt nicht, ganz im Gegenteil! Aber die unfassbar vielen Klone, die sich im Kielwasser des Davidoff-Duftes tummelten, erst recht das Überschwappen in den Bereich der funktionalen Parfümerie, haben bei mir einen Seebreeze-Overkill ausgelöst. Ich kann schon lange nicht mehr: Gnade!!
Boden- oder Fensterreiniger, Waschmittel oder Weichspüler, Duschgele oder Shampoos, Deodorants oder Duftbäume – allerorten diese süßlich-synthetische Meeresbrise, dieser die Natur verhöhnende Chemtrail. Ich werde zunehmend aggressiver.
Und dann das: „Sogno Reale“ – was für ein Duft!
Gut, es gibt Miller Harris’ „Fleurs de Sel“, „Acqua di Sale“ von Profumum oder „Sel Marin“ von Heeley, und viel andere dieser Art, die sich um einen anderen, natürlicheren Meeresakkord bemühen, einen der nach Salz riecht, nach Jod-haltiger Luft, nach Gischt-feuchtem Fels, nach Seetang und Algen – alles mehr oder minder wunderbare Düfte, die mich durchaus besänftigen. Aber „Sogno Reale“ gehört nicht in diese Kategorie, er ist anders. Ebenso wenig gehört er aber in die Kategorie der Cool-Water-Adepten, obwohl ich ihn kurz nach dem ersten Aufsprühen beinahe dort verortet hätte.
Saftige Zitrus-Noten, eine unverkennbare und heftige Dosis der Aromachemikalie ‚Calone’, kombiniert mit süß-harzigen Ambernoten – klingt das nicht scheußlich?
Es ist scheußlich.
Aber Halt! Wo bei anderen Düften dieser Couleur schon hier die Messe gelesen ist, fängt die Chose bei „Sogno Reale“ jetzt erst richtig an.
Nach einer Weile beginnen nämlich die tieferen Noten an Volumen zu gewinnen, werden breiter, komplexer, umfangen schließlich den etwas plärrenden, nasenhaarsträubenden Auftakt, ohne in vollends zu verdecken. Ein Hauch dieser Cool-Water-Gewöhnlichkeit bleibt bis zum späten Verebben dieses Duftes sogar erhalten, aber schon mit dem Aufblühen der Herz-, und erst recht der Basis-Noten stört sie mich überhaupt nicht mehr, sondern erscheint mir plötzlich völlig in Ordnung.
Das muss so sein!
Besonders gelungen finde ich den Übergang von den zitrisch-aquatischen Kopfnoten zur warmen, sinnlichen, eher feingliedrigen Basis: ausgerechnet die Tuberose mutiert hier zur entscheidenden Klammer. Selbst ein Schreihals sondergleichen, streckt sie wie ein Oktopus inmitten des Duftes die Tentakeln ihres Duft-Kaleidoskops in alle Richtungen aus: in die obere, frisch-ozonische Sphäre, wie in die dunklere, erdige Tiefe, ohne an der Rampe ihr allbekanntes Tuberosen-Solo zu schmettern. Ebenso hintergründig spielt das sie begleitende Patchouli eine vor allem verbindende, amalgamierende Rolle.
So kommt der laute, aber irgendwie auch launige Zitrus-Marine-Akkord (dem zu allem Überfluss eine leise Chlor-Anmutung anhaftet, die aber seltsam apart ist!) mithilfe des Tuberosen-Patchouli-Duos so langsam zur Ruhe, und sinkt auf eine wunderschöne Basis aus harzigen, dezent rauchigen und ledrigen Facetten. Eine Spur Hyraceum fügt ihr gerade soviel Animalik bei, dass unter allem eine leise, unaufdringliche erotische Raffinesse mitschwingt, die geradezu süchtig macht.
Apropos ‚leise’ und ‚süchtig’. Zwei Begriffe, die „Sogno Reale“ für mich charakterisieren: obwohl man es vermuten könnte, ist der Duft alles in allem nämlich nicht laut, sieht man vom selbstbewussten Auftakt einmal ab. Nein, er ist eher zurückhaltend, behält aber über einen langen Zeitraum eine angenehme Präsenz bei, die in Sachen Projektion nicht über eine Armlänge hinausgehen dürfte. Genau diese Reichweite ist mir persönlich am liebsten.
Und was den Begriff ‚süchtig’ betrifft: ein zumindest bei mir seltenes Phänomen begleitet diesen Duft. Dem abrupten Zurückschnellen des Kopfes nach initialem Sprühstoß, folgt stets ein langsames sich wieder herantasten, eine vorsichtige Annäherung an die beduftete Stelle, bis ich schließlich meine Nase nicht mehr von ihr weg bekomme.
Ja, „Sogno Reale“ macht tatsächlich süchtig!
Dass manche hier den Geruch von Seeigeln wiedererkennen, besonders im Auftakt, lass ich mal so stehen – da mich eher die Geruchswelt der Alpen sozialisiert hat, kann ich das nicht wirklich beurteilen. Keine Ahnung wie Seeigel riecht. Gut möglich aber, dass die Kombination aus jodhaltigem Meerwasserakkord, unterlegt von etwas Hyraceum diese Assoziation begünstigt.
Amelie Bourgeois hat mit „Sogno Reale“ jedenfalls einen traumhaften Duft geschaffen, ‚traumhaft’ in doppelter Hinsicht: zum einen verhält er sich tatsächlich so wie Träume eben manchmal sind –von wilden, chaotisch scheinenden Szenenwechseln gekennzeichnet, emotionsgeladen und widersprüchlich. Zum anderen ist „Sogno Reale“ aber auch einfach ein traumhaft schöner Duft, kontrastreich und spannend - nie aber verspannt! Denn dafür stehen Amelie Bourgeois und ihre ‚Flair’-Partnerin Anne-Sohpie Behaghel: für anspruchsvolle aber tragbare Duftkunst in bester, typisch französisch sublimierter Kunstfertigkeit.
Klar, nicht alle ihre Düfte sind Meisterwerke, aber wenn jemand in hoher Beständigkeit immer wieder welche abliefert, dann sind es diese beiden Ausnahme-Künstlerinnen. Vor allem, wenn man sie lässt, und ihnen die berühmte Carte blanche erteilt.
Stefania Squeglia, die Inhaberin von Mendittorosa hat das offenbar gemacht. Ihr Vertrauen zu den ‚Flair’-Gründerinnen ist scheinbar so groß, dass sie sogar eine junge Hochschulabsolventin, die Bourgeois und Behaghel unter ihre Fittiche nahmen, mit einem Duft in ihrem Haus debütieren ließ: Camille Chemardin mit „Ithaka“.
Dass dieses Vertrauen immer wieder belohnt wird, zeigte sich zuletzt an dem fantastisch geratenen „Orlo“.
Aber es sind nicht nur die – meistens – zwingenden Kompositionen, die hier überzeugen – man kann die guten Inhaltstoffe förmlich riechen! Wenn beides zusammen kommt, beste Ingredienzen und Können, interessant und stilvoll inszeniert, dann darf man getrost vom Idealfall sprechen.
Dass das Design von Mendittorosa etwas eigenwillig ist, geschenkt. Genau diese verspielte Eigenwilligkeit finde ich aber sympathisch. Auch wenn’s nicht mein Stil ist, mir gefällt’s. Es zeugt jedenfalls von Sorgfalt, echter Wertschätzung, und ja, auch Leidenschaft.
„Sogno Reale“, diesen ‚wirklichen Traum’, den Stefania Squeglia den ‚Flair’-Damen berichtete, auf dass diese einen Duft daraus destillierten, krönt tatsächlich eine Art Seeigel, allerdings einer aus bemaltem Gips und kein echter, was schon besorgte Tierschützer auf den Plan rief.
Könnte also etwas dran sein, an der Seeigel-Assoziation.
Sollte mir in meinem Leben jemals ein Seeigel unter die Nase kommen, werde ich mal ganz bewusst an ihm riechen.
Bin gespannt!
Ein kleiner Nachtrag: Nachdem ich den Duft nun einige Male getragen habe, freue ich mich fast auf diesen satten Zitrus-Marine-Auftakt! Zum Glück hat Amelie Bourgeois nämlich offenbar auf die stereotype, maskuline Frische-Fougères charakterisierende Kombination von Calone (IFF vermarktet es sinnigerweise unter dem Namen ‚Aquamor’) und Dihydromyrcenal (DAS Molekül für porentiefe zitrisch-süßliche, etwas metallische Reinheit!) verzichtet, und stattdessen den Akkord mit halbwegs natürlichen Zitrusölen kreiert.
Das riecht so viel besser als bei “Cool Water“ & Co.!
Nachtrag, 22.05.21: Da in "Sogno Reale" keine Melonen-Note mitschwingt (Calone), könnte Bourgeois auch 'Maritima', 'Oceanol' oder ein ähnliches Duftmolekül verwendet haben...