Fantomas 2020 Extrait de Parfum

Rebirth2014
28.09.2020 - 19:37 Uhr
52
Top Rezension
10
Flakon
10
Sillage
10
Haltbarkeit
10
Duft

Grauenhaft genial!

Ja, ich habe Fantomas die volle Punktzahl gegeben, obwohl ich ihn nie tragen werde. Er riecht für mich aggressiv, unharmonisch und in Teilen sogar ekelhaft. Aber er ist gleichsam ein kompromissloses Meisterwerk im Bereich Pop Art und könnte durchaus im Filmmuseum Frankfurt ausgestellt werden (als olfaktorischer „Soundtrack“ 4-D).

Als Kind der 70er Jahre nahm ich den Filmcharakter Fantomas als Schreckgespenst und Oberschurken wahr. Nach jeder TV-Ausstrahlung wurden wilde Spekulationen über den blauen Teufel zum Dauerthema unter uns Grundschülern:

„Hast Du gestern Fantomas gesehen?“

„Nö, haben meine Eltern verboten! Zu brutal! Aber ich bin noch einmal heimlich aufs Klo gegangen und habe ganz kurz auf den Fernseher geschaut. Da war Fantomas! Furchtbar blau und er hat total böse gelacht!“

„Echt jetzt? Boah, soooo gruselig! Schnell, erzähl weiter ...“

Mehr gab es allerdings nicht zu erzählen und der Mythos des schrecklichen Bösewichts mutierte weiter in unserer Phantasie. Wie konnten wir damals ahnen, dass es sich um eine harmlose Komödie mit dem herausragenden Louis de Funes handelte? Es war eine Zeit, in der schon allein die Verbrechensthematik eine FSK 16 rechtfertigte.

Mit unseren Actionfiguren - rund um die Abenteuerwelt von „Big Jim“ - spielten wir unsere kindlichen Vorstellungen über Fantomas nach. Um Gerüche/Düfte machte ich mir damals noch keine Gedanken, obgleich ich all die olfaktorischen Eindrücke dieser Zeit in meinem Gedächtnis abspeichern konnte.

Nun haben wir das Jahr 2020 und einer der provokantesten Parfümeure der Gegenwart nimmt sich der Thematik Fantomas erneut an.

Mit einem heftigen Melonengeruch, vielleicht etwas von Blaubeere untermalt, startet Fantomas. Ganz klar Calone, ein Duftstoff, der seinen Höhepunkt in den 80ern erreichte (New West ). Doch entdeckt wurde er bereits 1966, also genau im Zeitfenster der Fantomas-Filmreihe. Ob das bei Gualtieri reiner Zufall ist? Wollte er einfach Wassermelone - ohne weiteren Bezug - als Kopfnote einfügen? Damit die Komödie eröffnen? Oder wollte er hier auch einen Zeitrahmen setzen? - „Hey, habt ihr bemerkt, dass beides Mitte der 60er seinen Ursprung nahm und bis heute nachwirkt?“

Während man die Kopfnote noch als lustige Provokation abtun könnte, zündet bereits Stufe 2. Unter Glycerindampf (den sich heute mancher in die Lunge zieht, der jedoch in den späten 60ern als „Disconebel“ seinen Einsatz fand) zeichnet sich langsam eine Vinyl-PVC-Latex-Struktur ab. So rochen die Wohnungen und Kinderzimmer - besonders das Spielzeug (Puppen und Big Jim) - in den 70er Jahren. Das kann nun kein Zufall mehr sein!

Alles wirkt total „overtuned“, absolut schrill, und formt sich so schnell, wie Fantomas dem tollpatschigen de Funes im Film oft erscheint.

Über Stunden hinweg bleibt dieses gewollt synthetische Duftbild erhalten und Roy Lichtenstein zeichnet ein lautes „Peng!“ in einer Sprechblase dazu.

Bis hierhin wirkt das Konzept schon ziemlich genial: Fantomas teleportiert sich olfaktorisch ins Hier und Jetzt, doch die gewählten Duftstoffe teleportieren mich direkt in die späten 60er bzw. frühen 70er Jahre.

Langsam zieht sich in der folgenden Duftentwicklung die Kopfnote zurück (auf dem zur Probe mitgelieferten Tuch dauert das allerdings 2 ganze Tage). Die Blaubeermelone schwingt nur noch leise im Hintergrund, der Weichmacher aus Fantomas Plastikmaske verdunstet und ein beißender Rauch führt nun in die Tiefe/Basis des Duftes. Darunter versteckt sich der typische Gualtieri-Akkord, der schwitzig mit dem bekannten Fäkal-Oud sowohl die menschliche Ebene des Phantoms vermittelt, als auch die Signatur des Meisters offenbart.

Ganz ehrlich: Dieses Duftmonster möchte ich nicht auf der Haut tragen, so sehr es mich auch fasziniert. Das Thema ist jedoch dermaßen authentisch umgesetzt, mit einer Power, Kreativität, Tiefgang und Interpretationsspielraum - kurz gesagt: Alessandro Gualtieri hat damit den Zenit seiner künstlerischen Ausdruckskraft erreicht.

Gefällige, wohlriechende und schmeichelnde Duftwässerchen gibt es wie Sand am Meer. Auf die Ebene der Kunst - was Parfum durchaus sein kann und auch soll - hebt Gualtieri seinen Fantomas mit all seinem Können. Davor habe ich Respekt und belohne dies mit der bestmöglichen Wertung.

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