Farouche 1973 Eau de Parfum

loewenherz
29.01.2023 - 05:04 Uhr
44
Top Rezension
6
Flakon
7
Sillage
7
Haltbarkeit
7.5
Duft

Sie ist jung

'Fangt ihr doch im Wohnzimmer und der Küche an' hat sie gesagt '- und nehmt euch bitte alles, was ihr haben wollt.' 'Ich hab' ja keinen Platz dafür.' ergänzt sie so leise, dass die beiden erwachsenen Töchter es nicht hören können, die im Flur die ersten Kartons auseinander falten und Porzellangeschirr und anderen Hausrat in Luftpolsterfolie packen. Das Schlafzimmer wird sie selber machen, hat sie zu ihnen gesagt, und auch das Badezimmer. Denn das geht ja schnell.

Als sie das Hängeschränkchen öffnet und eine Packung im Sommer 2006 abgelaufener Kopfschmerztabletten und eine ungeöffnete Flasche Haarspülung, die sie vor acht Jahren im Drogeriemarkt für Shampoo gehalten hat, in den Sack geworfen hat, zögert sie. Vergessen hinter Ersatzzahnbürstenköpfen und einem Glas mit Hotelseifen aus den 80ern steht ein hübsches Fläschchen: halbvoll, der Inhalt cognacfarben, das Etikett nur noch mit Mühe zu entziffern.

'Ach' sagt sie, und dann schließlich nochmal: 'Ach.' Und dann setzt sie sich auf den mit altrosafarbenem Plüsch bezogenen Toilettensitz ('Den nimmst du auf keinen Fall mit' hat ihre jüngere Tochter vorhin noch gesagt - 'und der schreckliche Vorlegeteppich bleibt auch hier!', aber wieso - der ist doch gut!?) und schiebt mit dem Fuß die Tür vorsichtig zu. Dann dreht sie den goldfarbenen Deckel ab und schnuppert. Und dann sagt sie noch mal leise: 'Ach...'

Das erste Weihnachten in diesem Haus, noch ohne Schränke in der Küche. Die Taufe ihrer großen Tochter - und ein Jahr später dann die andere - in der teuren Seidenbluse, die mit der Hand gewaschen werden musste. Sein fünfzigster Geburtstag - dreißig Leute zum Kaffee mit dem geliehenen Geschirr der Nachbarn - sie fragt sich noch manchmal, wie das gehen konnte. Das schlimme Jahr, als er ihr sagte, dass er sie betrogen hatte. Und wie sie ihm vergeben hat.

Der Duft in ihrer Hand erinnert nur vage an den, den sie zur Seidenbluse trug. Und wer ihn damals nicht getragen hat, wird sich mit den zwei Fingerhoch in der kleinen Flasche nur kaum erinnern können: Pfirsich, Geißblatt, Maiglöckchen, so hat man Parfums mal gemacht. Sie hat den Namen jahrelang nicht richtig ausgesprochen und hat auch nicht gewusst, was 'farouche' auf französisch alles heißt: wild, spröde, unbeugsam und scheu. Die Eigenschaften einer Frau.

Sie fragt sich, ob es sich wohl lohnen wird, den kleinen Rest noch mitzunehmen - in die winzige Wohnung im Seniorenwohnheim, die lange noch 'die Wohnung' bleiben wird - und nicht zuhause. Ob sie ihn noch mal tragen wird - zu Vorträgen über Lappland, Gedächtnistraining und Hühnchen gedünstet-ungewürzt. Nein, wird sie wahrscheinlich nicht. 'Alles in Ordnung, Mama?' ruft ihre Tochter 'Du bist so still.' 'Ja.' sagt sie leise und mit einem Lächeln - 'Alles in Ordnung. Alles gut.'

Fazit: ein Duft aus einer anderen, längst versunkenen Welt. Ein vibrierender Chypre mit weißen und ockergelben Blüten und eine Ahnung von Rive Gauche in den 70ern: vieldimensional orchestriert, opulent und damenhaft-mondän im besten Sinne. Sie dreht den Deckel entschlossen wieder auf die kleine Flasche und legt ihn in die Kiste mit 'Kommt mit.' Vielleicht wird sie ihn nie wieder tragen. Und vielleicht doch - man weiß ja nie. Sie ist noch jung.
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