07.11.2020 - 08:40 Uhr

Rosenut
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Veilchensucht: Symptom der ersten Stadtneurotiker
Violettes du Czar (2014) ist die Rekonstruktion eines 1862 von Oriza Legrand komponierten, "maskulinen" Veilchenparfums. Der Name ehrt Zar Alexander II., einen Stammkunden des Hauses. Das Veilchen war die Lieblingsblume der Belle Époque, einer Zeit, in der die industrielle Revolution bereits gesiegt hatte. Gerade in den Städten liebte man die scheue Aura der kleinodhaften Waldblume, die in Wirklichkeit massenhaft unter Glas gezüchtet wurde. Zum Straßenbild gehörten Verkäuferinnen, denen man kleine Veilchensträuße abkaufen konnte. Manets Portrait "Berthe Morisot mit Veilchenstrauß" (1872) zeigt, was man damit machte: Sie wurden an der Kleidung befestigt. Violettes du Czar basiert auf der androgynen Idee des "Veilchenleders". Den Auftakt bilden strenge, hellgrüne Noten, in denen das Medizinale sich vom Giftigen nicht recht unterscheiden lässt. Die grünen Noten gehen fließend in eine leicht stechende, an Gerbungsprozesse erinnernde Urin-Schärfe des Lederaspekts über. Aus dieser herben Melange aus Arznei, Frühjahrsblühern und Leder strömt ein ungezuckerter, erdig-mineralischer Veilchenduft hervor. Die Veilchennote scheint hier hauptsächlich auf der Wurzel der florentinischen Schwertlilie zu beruhen, was im 19. Jahrhundert üblich war. Ohne den sonnigen Charakter echter Veilchen verkörpert dieses Wurzel-Absolue sehr überzeugend eine kühle, nachdenklicher gestimmte Variation auf sie. Mit modernem Interesse am Konflikthaften stellt Violettes du Czar (2014) dieses Veilchen in den Kontext menschlich erfasster, zu Medizin und Leder gemachter Natur. Obwohl anfänglich etwas stechend, projiziert dieses Parfum nicht sehr stark. Ein schicker und subtiler Duft für den noch kalten Abschnitt des Frühjahrs. P.S.: Ein nicht so progressiver, aber beachtenswerter Veilchen-Leder-Duft ist das weichere und süßere "Jolie Madame" von Balmain aus dem Jahr 1953.
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