loewenherz
21.02.2021 - 11:30 Uhr
65
Top Rezension
6
Flakon
7
Sillage
8
Haltbarkeit
8
Duft

Wo deine Füße steh'n, ist der Mittelpunkt der Welt

Eine der vielen Besonderheiten - oder auch Kauzigkeiten, wenn man denn so will - Berlins ist, dass die Bewohner fast aller Bezirke - ach, was: Ortsteile, Kieze, mitunter Straßen - überzeugt davon sind, dass gerade der ihrige der beste, schönste und einzige ist - und hier und nirgendwo anders der Mittelpunkt der Welt. Und so ist es dieser ganz besondere 'Campanilismo' zwischen dem sprichwörtlich vorstädtischen Spandau im Westen bis zum idyllisch grünen Rahnsdorf im Osten, vom behäbig-bürgerlichen Steglitz im Süden bis ins verblüffend bäuerliche Lübars im Norden - und der ganze Touristenjubeltrubelfrohsinn mittendrin - der dieser Stadt ihr Wesen und ihren Charakter gibt.

Der Bezirk, der wie kein anderer das Gepräge des alten West-Berlins trägt, ist Charlottenburg-Wilmersdorf. Zwischen Zoo und Tauentzien liegt seine gefühlte Mitte, und unweit dieser Mitte in der Kantstraße das Ladenlokal von Harry Lehmann - für Unaufmerksame zwei beinahe unsichtbare Schaufenster nahe der Kreuzung Wilmersdorfer Straße. Doch tritt man durch die Glastür ins Innere des Geschäfts, wähnt man sich zurück im alten West-Berlin - selbst wenn jenseits von Glastür und Schaufenstern noch immer 2021 ist. Und müsste ich von allen Düften, die hier feilgehalten werden, einen als die Essenz von Harry Lehmann wählen - es wäre Russisch Juchten.

Aufgrund der vielen russischen Exilanten wurde Charlottenburg einst der Spitzname 'Charlottengrad' gegeben, aber es darf bezweifelt werden, dass dies der Impuls für Russisch Juchten war - ein Name, der viel verheißt und doch so anders ist als die/der - auch und gerade fortgeschrittene - ParfumliebhaberIn erwartet haben mag. Hier ist ein kraftvoller und kantig orchestrierter Duft - einer, der noch eine solche Vielzahl an Duftnoten und -akkorden anbietet, dass man tatsächlich von 'Orchestrierung' sprechen kann. Er ist ein Chypre und dann wieder keiner, ist Leder und doch keins, ist so selbstbewusst oldschool wie die Kantstraße draußen vor der Tür, ob 2021 oder nicht.

Russisch Juchten ist ein kompromisslos linearer Duft der alten Schule, verortet irgendwo zwischen Chypre, Eichenmoos und Leder - und mithin für erst in den letzten zwanzig oder gar zehn Jahren sozialisierte Nasen nachgerade verstörend fremd. Er erzählt von den 70er und 80er Jahren des letzten Jahrhunderts - nicht wehmütig oder verklärt, sondern ganz nüchtern, erzählt von Zigarettenrauch in Pelzmänteln, von Krabbensalat im Cocktailglas und der wichtigen Miene des Kellners, als er an den Tisch trat und halblaut sagte: 'Anruf für Sie, Herr Direktor.' Hier ist die Seele Harry Lehmanns, Kantstraße 106 in Berlin-Charlottenburg, in einer Flasche. Hier.

Fazit: jede Generation hat Wege und Wörter gefunden, die Kiezigkeit Berlins von neuem zu besingen: von Hildes Heimweh nach ihrem Kurfürstendamm bis zu Sidos Bezirk, Viertel, Gegend, Straße, Block. Sven Regener, Frontmann der Berliner Band Element of Crime krächzte: 'Wo deine Füße steh'n, ist der Mittelpunkt der Welt'. Hier in Charlottenburg, wo es nach Lehmanns Russisch Juchten duftet.

Nachtrag: ist loewenherz back? Nein, ist er nicht. Just this once. :)
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