№ 03 - Lonestar Memories 2006

Foxear
01.05.2021 - 02:28 Uhr
100
Top Rezension
8
Preis
10
Flakon
9
Sillage
10
Haltbarkeit
10
Duft

Anderssein ist Persönlichkeit

Wie lange bin ich schon hier? Tage? Jahre? Gefühlt sind 100 Leben an mir vorbeigezogen – nach der Schule wollte ich Theologie studieren, nun verharre ich in der Hölle. Über mir strahlt hämisch die Sonne – zum Sterben schön.

Donnernder Artilleriebeschuss erschallt und holt mich zurück in die Gegenwart. Das Trillern von Pfeifen ertönt, der Befehl zum Angriff. Aus dem Schützengraben heraus stürme ich mit meinem treusten Freund in beiden Händen in den rauchigen Nebel aus Leid und Verderben. Dicht neben mir wird der Boden durch einschlagende Geschosse emporgehoben – hinter mir das anpeitschende Trommelfeuer der befreundeten MG-Schützen. Entzündetes Schießpulver, süßer Blutdunst und der Geruch durch die Luft geschleuderter Möhrensamen, aus den Versorgungstaschen krepierter Pferde, wabern drückend in der Atmosphäre. Infernalisches Chaos, welches den gesunden Menschenverstand sprengt. Degradiert zu dem, was wir im Grunde sind: Tiere.

„Vorwärts, weiter, weiter – nicht zurückfallen!“ höre ich meinen Zugführer lauthals brüllen. Mehr meinen Instinkten als seinem Befehl folgend, eile ich voran – derweil um mich herum der Boden hochgeht und Funken aus Zeus Donnerkeil an mir vorbeisausen. Tief verwurzelte Blüten steigen angetrieben durch die Druckwellen der einschlagenden Geschosse empor und finden noch vor mir ihren Weg in die ewigen Jagdgründe. Indes lacht die Sonne weiterhin gleichgültig ob der Geschehnisse.

Als sich mir die erste Möglichkeit auftut, den Feind ins Visier zu nehmen, überkommt mich ein kalter Taumel und ich falle auf die von Tonkabohnen gesäumte Erde, welche mich voller Vergnügen vollends verschlingt. (Inspiriert durch „Im Westen nichts Neues“)

… Keine Angst, ins Gras beißen muss hier keiner – die gewaltige und bestialische Rohheit hingegen teilt der Duft mit der Erzählung. Dieser kommt nämlich wie ein Artilleriegeschoss auf die Haut geflogen. Dunkler Rauch und dreckige Gewürze explodieren beim Aufprall in unmittelbarer Nähe: „Gestatten, Andy Tauer mein Name. Kennen wir uns? Nein? Jetzt schon!“. Die Duftnoten sind komplex ineinander verwoben und schwer zu beschreiben. Ein chaotischer und zugleich harmonischer Geruch der rauchig und ledrig sowie leicht süß riecht. Zur Veranschaulichung: Lederlappen auf brennenden Autoreifen mit einem Klecks Amber überzogen. Es klingt grotesk, ist aber genial.

Im Verlauf verliert der Duft an Rohheit und wird dadurch tragbar(er). Es bleibt weiterhin warm ledrig und etwas Verruchtheit schwingt mit. Die rauchige Basis ist omnipräsent, sie bildet das Fundament, auf dem sich das olfaktorische Gefecht abspielt – wenn auch nicht besonders auffällig. Im Gegensatz zum aggressiven Auftakt mutet der Duft fortwährend heller und weicher an, womöglich durch florale Noten oder ein Durchschimmern der süßen Basis zu begründen. Abklingen tut der Duft cremig süß, möglicherweise auf ein Zusammenspiel aus Myrrhe, Tonka und Sandelholz zurückzuführen. Das war mein stümperhafter Versuch, das Geschehene in Worte zu fassen; eine ausgefeilte Duftbeschreibung indes findet man im Kommentar von Chizza.

Lonestar Memories ist abstrakt und facettenreich. Realistisch gesehen öffentlich untragbar; zu opulent, zu kantig – bei Außenstehenden stößt man vermutlich auf Unverständnis und Ablehnung. Trotzdem: ich würde ihn jederzeit tragen. Dem Duft wohnt ein Charakter inne, der viele Wesenszüge hat. Ambivalent zwischen brutal und gefühlvoll, finster und hell, böse und barmherzig, traurig und glücklich, hasserfüllt und liebend. Anfangs ist er harsch und derb, nur um sich später für seine aufbrausende Art mit einer innigen Umarmung zu entschuldigen. Seine Persönlichkeit hat Risse, doch erst dadurch kann das Licht hineinscheinen: das macht ihn menschlich. Was Andy Tauer hiermit gelungen ist? Ein olfaktorisches Kunstwerk.

Passende Musik: Cthulhu Rise – Opus 22
Vielen Dank an Unruh für dieses liebvolle Viech von einem Duft!

Wissenswert: 2014 versuchte sich die norwegische Chemikerin Sissel Tolaas tatsächlich an einen Duft, welcher den Geruch der Schlachtfelder aus dem 1. Weltkrieg nachahmen sollte. Ein Geruch von „grausam unentrinnbarem hundertfachem Dahinvegetieren, Siechen und Sterben.“. Diesen Duft kann man in der Dauerausstellung zum 1. Weltkrieg des historischen Militärmuseums in Dresden erfahren.
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