№ 02 - L'Air du Désert Marocain 2005 Eau de Toilette Intense

Siebenkäs
24.03.2021 - 07:00 Uhr
30
Top Rezension
9
Flakon
8
Sillage
9
Haltbarkeit
9.5
Duft

Das Wüste.

Mitten in der Nacht wachte er auf.
Er wusste plötzlich, was es war, das viele Menschen
so begeistert und umtreibt und irgendwie fast trägt
an diesem Stoff, den man „Parfum“ nennt.
Und wie die Saite, die Parfum zum Klingen bringt,
im Einklang schwingen kann mit anderen Saiten,
zum Beispiel in Gebirgen, Waschbären oder Gebraucht-
wagenhändlern.
Und was das alles zu tun hat mit dem Kern der Welt,
mit unserem Daseinsgrund und Weltverständnis.
Es war so verblüffend einfach. Völlig klar.
Seltsam, dass es noch keiner bemerkt hatte.
Und jetzt ausgerechnet er!
Er musste es unbedingt aufschreiben, sofort.
Und dann - war es wieder weg.
Wie schade.

Am nächsten Morgen hing der Duft, den er am
Vortag getestet hatte, noch in seinem Pulli.
Es war L’Air du Desért Marocain.
Er beschloss, ihn sich noch einmal aufzusprühen.
Er konnte sich an Parfum fast schon maßlos erfreuen.
„Mehr als es mir eigentlich zusteht“, dachte er oft.
Allerdings war dieser Duft wirklich etwas besonders.
Was der Name an Erwartungen schürte, wurde erst
mal kaum erfüllt – er begann mit einer verblüffenden
Frische – aber einer alles andere als Gewöhnlichen.
Natürlich hatte er eine Liste der Inhaltsstoffe,
aber so richtig aufdröseln ließ sich hier wenig.
Es lag etwas fast Zitrisches, mit leichter Bitterkeit
Vermischtes darin, aber auch eine gewisse Süße,
die im Hintergrund auch etwas kontrolliert Unsauberes
mit sich trug, das er sich nicht erklären konnte.
Eine wilde Gewürzmischung schien mitzuschwingen;
auch sie konnte man nicht konkret greifen.
Etwas erinnerte ihn gar an Open von Roger Gallet,
diese irgendwie frisch-derbe Würze vielleicht.
Und etwas schien an dem Duft anders als üblich
gepolt – die Projektion schien ihm mit der Zeit eher
stärker zu werden statt nachzulassen.
Was hatte all das mit „Wüste“ zu tun, gar mit der
Marokkos? Gut, es war etwas sehr Trockenes im
Duft, aber doch auch etwas Fließend-Cremiges.
Etwas Deftiges, wohl von Gewürzen wie Koriander
und Kreuzkümmel, aber nichts Derbes.
Etwas Holziges sowieso, Zeder und Sandelholz,
allerdings auch schwer zu auseinanderzuhalten.
Und von was kam die Süße?
Jede Menge Widersprüche eigentlich.
Vielleicht war das ein Grund, weshalb er den Duft
so mochte.

In der nächsten Nachte träumte er nichts,
dass ihm des Aufschreibens wert schien.
Im Grunde waren es nur zwei Träume, die er beide
zu den „Spielverderber-Träumen“ zählte, die ihn
bisweilen überfielen.
Zuerst war er Professor an einer Kunstakademie.
Seine Beschäftigung bestand darin, den Studenten
immer wieder eine andere Farbe zu verbieten –
bitte kein Kobald-Blau und kein indisch-Gelb und
nur sehr wenig Kadmiumrot.
Danach lehrte er Komposition am Konservatorium –
und es war ähnlich. Bloß kein B-Moll und wenn E-Dur,
dann nur ohne große Terzen. Und Chromatik nur ganz,
ganz eingeschränkt.
Er erwachte und war froh, dass die Sonne schien.
Es schien ihm ein guter Tag für mehr L’Air du Desert.
Da er den gleichen Pulli trug und noch einmal nach-
sprühte, schien er jetzt das gesamte Orchester des Duftes
zu vernehmen. Der Drydown war dominiert von harzigen
Klängen, rund um wunderbaren Amber angeordnet.
Erinnerungen gab es auch – ein leiser, ferner Hauch von
Jicky vielleicht? Aber auch immer noch diese Zistrose.
Und Gewürze, womöglich auch trockener Vetiver.
Auf jeden Fall trocken, dabei aber auch süß.
Ein scheinbarer Widerspruch, wenn man etwa mal
an Wein dachte.
Und wieder die Frage: was hat das alles mit Wüste zu tun?
Allerlei ging ihm durch den Kopf.
Widersprüche, die dennoch eine Harmonie bilden.
Wie in diesem Parfum.
Die Wüste ist sehr heiß. Und nachts sehr kalt.
Auf jeden Fall ist sie vollkommen dual.
Sand und Licht. Himmel und Erde. Hitze und Kälte.
Und Ort der inneren Einkehr. 40 Tage in der Wüste.
Meditation, Versuchung, Erkenntnis.
Innere Einkehr. Oder auch Umkehr.
Sich entscheiden, sein ganzes Leben zu ändern.
Genau dieser Gedanke machte ihn seltsam unruhig.
Diese Wüste suchten bisweilen Kerouaks Helden auf,
man findet sie nicht nur in Marokko, auch in Palästina
und Arizona. Oder in Castrop Rauxel.
Und diese freundliche, gar nicht strenge Süße, die sogar
an Vanille erinnert?
Passt sie nicht perfekt zu dem, woraus Wüste
hauptsächlich besteht – Sand?
Kindersand, genauer bedacht.
Das Gedicht von Ringelnatz fiel ihm wieder ein:

Das Schönste für Kinder ist Sand.
Ihn gibt’s immer reichlich.
Er rinnt unvergleichlich
zärtlich durch die Hand

Weil man seine Nase behält,
wenn man auf ihn fällt,
ist er so weich.
Kinderhände fühlen,
wenn sie in ihm wühlen,
Nichts und das Himmelreich.

Denn kein Kind lacht
Über gemahlene Macht.

Es steckte tatsächlich sehr viel drin, in diesem
Duft. Jedenfalls für ihn. Sehr viel passierte auf einmal.
Man könnte sagen – es gab eine gewisse Unordnung.
Steckte das nicht auch in Wüste - hier sieht’s aber „wüst“
aus?
Aber wüst konnte auch „wild“ bedeuten – z.B. wenn
einer „wüst“ schimpfte“.
Und - hatte er noch ein bisschen dieser Art von Wüsten-
qualität in sich aufbewahrt?

Er war sich auf einmal ganz sicher.

Er würde seinen Job kündigen und wieder bei
seiner Schwester im Cafè arbeiten.
Vielleicht sogar kochen.
Sein Job bei dieser Einrichtung war einfach nicht
das Richtige für ihn, obwohl er sehr gut bezahlt war.
Und trotz der gewissen Macht, die er ihm zu verleihen
schien.
Schon der Name dieser Institution hatte etwas Kaltes
und irgendwie rücksichtslos klingendes, etwas, das
nach bedingungsloser Unterwerfung klang.
Er murmelte ihren Namen ein paar Mal vor sich hin,
wie um einen Zauber zu bannen: „IFRA, IFRA, IFRA…“
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