Je Ne Sais Quoi 2020

Pollita
26.02.2021 - 05:29 Uhr
41
Top Rezension
6
Flakon
8
Sillage
8
Haltbarkeit
6.5
Duft

Der Morgen danach

Wir haben Messe. Eine ganze Woche lang. Inklusive Samstag und Sonntag. Alle zwei Jahre besuchte ich mit meinem ehemaligen, langjährigen Arbeitgeber den für unser Klientel wichtigsten Branchentreffpunkt. Mit einer großen Mannschaft waren wir stets vor Ort. Wir nächtigten außerhalb in einem gemütlichen Gasthaus und fuhren vormittags Kolonne zum Ort des Geschehens. Mindestens für ein bis zwei Tage reiste auch der Chef an. Und wenn der Chef kam, dann gönnte er uns was. Er bezahlte unser Abendessen und spendierte anschließend eine Runde Schnaps nach der anderen. Wir tranken am liebsten Haselnussschnaps. Eine Spezialität aus Österreich mit gerösteten Haselnüssen. Im Unterschied zu Obstbränden wird dieser kräftig gezuckert, was dazu führt, dass man bei zu viel Genuss einen richtig üblen Kater bekommen kann.

Als ich diesen Cabanel, lanciert im Krisenjahr 2020, testete, war ich zunächst gedanklich beim Aroma dieses Edelbrandes. Diese Röstaromen der Haselnuss, die diese Spirituose charakterisieren, stiegen mit beim Duft unmittelbar in die Nase und ich musste an die abendlichen Festivitäten im Rahmen der Messe denken. Mmmh, ja. Das ist lecker. Da nehm ich doch noch die zweite und die dritte Runde mit. Chef ist ja spendabel.

Am Tag danach kam dann die Ernüchterung. Meistens mussten wir nach dem Chefbesuch noch mehrere Tage Standdienst absolvieren und fühlten uns entsprechend ausgelutscht. Alle lächelten natürlich am Messestand, einige Herren versuchten den schalen Atem mit etwas mehr Rasierwasser als sonst zu übertünchen, doch das klappte nicht immer.

Warum hab ich gestern nur bei alle Runden mitgetrunken? Warum geht’s mir soo schlecht? Je ne sais quoi! So fühlte sich der eine oder anderen Vertriebsmitarbeiter am Morgen danach. Alle standen es natürlich tapfer durch, aber der Kopf rebellierte. Ebenso der Magen.

Und genau das macht auch dieses Parfum mit mir. Der Name ist geschickt gewählt. Es transportiert einen nämlich in relativ kurzer Zeit unmittelbar zum Morgen danach. Die süßen Röstaromen der Haselnuss verabschieden sich nach rund 15 bis 20 Minuten und es kommt eine unangenehme, künstlich süße Sandelholznote durch. Diese ist durchdringend und erdrückt das feine Nussaroma. Dazu gesellen sich Veilchenblatt und Vetiver, die bei mir für eine Rasierwasserassoziation sorgen. Die schwitzige Note des Sandelholzes erweckt bei mir den Eindruck des Atems so mancher ehemaliger Arbeitskollegen am frühen Morgen nach dem Alkoholgenuss. Wann ist es endlich Vier? Wann kann ich, gemeinsam mit dem Kunden, zu einem erlösenden Konterbierchen greifen? So lange hämmert und wummert der Kopf unentwegt weiter.

Nö, also dieser Kopfnotenblender macht keinen Spaß. Denn er erweckt bei mir exakt dieses Bild der lustigen und später total kaputten Messetruppe. Auf Papier hält sich die süße, geröstete Nussnote länger. Auf der Haut wird man stattdessen schneller mit dem Morgen danach konfrontiert.

Mit der Bewertung bin ich hier schnell von 9 auf 6,5 runtergefahren. Sorry Teo. Falls Du damit olfaktorisch darstellen wolltest, dass im Krisenjahr deutlich mehr Alkohol getrunken wurde. Es ist geglückt.

Der lieben Heikeso danke ich ganz herzlich für die Testmöglichkeit.
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