Black Orchid 2006 Eau de Parfum

Carpintero
19.09.2021 - 10:43 Uhr
30
Top Rezension
9
Preis
9
Flakon
10
Sillage
10
Haltbarkeit
10
Duft

Wenn Bogotá ein Duft wäre

Verregnet war er, der heutige Sonntag. Zumindest hier bei uns. Kühl und ausladend war es, als meine Partnerin die Wohnung nach dem Mittagessen durchlüftete. Ich hatte mich bereits wieder ins Bett verzogen, dem Ort, an dem ich auch die gesamte letzte Woche verbracht hatte - mit hohem Fieber, Glieder- und Knochenschmerzen. Komplett gut war es noch nicht, nein, aber auf dem Wege der Besserung, da befinde ich mich.

Wo war ich…?
Ahja, verregneter, kalter und ausladender Sonntag.
Perfekt, um selbst im Krankenbett einen ganz besonderen Duft zu tragen: Tom Fords Black Orchid.

Mein Verhältnis zu diesem Duft ist mindestens so gespalten wie meine Einstellung zum heutigen Wetter - oder meine Beziehung zu Bogotá.

Bogotá, Kolumbiens Hauptstadt mit 7.18 Millionen Einwohner, liegt auf einer Höhe von über 2600 Metern über dem Meeresspiegel. Und dies hat zur Folge, dass es dort stets kühl, meistens bewölkt und oftmals sehr regnerisch und windig ist.

Bogotá, mit Betonung auf dem á und nicht dem ersten o. Bogotá, Hass und Liebe, Freud und Leid, Glück und Unglück für mich in einer einzigen Stadt perfekt miteinander kombiniert. So wie Black Orchid von Tom Ford.

Black Orchid startet bei mir harsch, ausladend, überwältigend und unkonventionell. So wie Bogotá, mit ihrem harschen Klima, dem ausladenden Dauerregen, der überwältigenden Eindrücke, wenn man zum ersten mal der Séptima, der 5th Avenue Bogotas, entlangfährt und unkonventionell, wie wenn man in Bogotá Pulverkaffee vorgesetzt bekommt, wo doch Kolumbien für seinen exzellenten Kaffeeanbau bekannt ist.

Harsch und ausladend wegen der alkoholischen Note beim Opening des Duftes, die nahezu jede Ritze der Zimmerwand penetriert, gepaart mit dem schwarzen Trüffel, der so überwältigend und unkonventionell daherkommt. Dazu gesellen sich schon an dieser Stelle üppiger Ylang-Ylang und leicht zitrische Noten, die mich an die üppigen Süssspeisen in Bogotás Top Restaurants erinnern, gefolgt von der leichten Zitrik, die man im Kaffee, dem “Tinto” wie man ihn in Kolumbien zu nennen pflegt, wahrnimmt.

Im Herzen bleibt es weiterhin üppig, gefolgt von hochgradiger Dekadenz und Schwere. So üppig wie die in Kolumbien überall eingesetzte Arequipe, eine hoch kalorische Karamell-Creme, hergestellt aus Milch, Rahm und Zucker. So Dekadent wie die luxuriösen Malls Bogotás, wo diese Creme zu horrenden Preisen verkauft wird. Ein kleines Fässchen zum Preis eines monatlichen Durchschnittseinkommens. Läuft. So Schwer wie das Leben der Arbeitnehmenden, die sich auf brutale Art- und Weise ihren Lohn mit anstrengenden und risikoreichen Jobs verdienen müssen.
Es herrscht Wehmut, Trägheit und doch der Hang und Wunsch zum luxuriösen Leben, den Drang, von der Arequipe-Torte mit Schlagrahm und Zuckerguss etwas abzubekommen.
Leichter wird es, wenn man die Mall verlässt und im immerwährenden Frühlings, “la primavera entera”, der Stadt etwas von den blumigen Noten in die Nase bekommt. Denn trotz der Höhe von 2600 Metern und dem ständigen Regen in der Stadt hat Bogotá eine beachtliche Flora vorzuweisen, was nicht zuletzt dem Umstand geschuldet ist, dass sich Kolumbien so unverschämt nahe am Äquator befindet. Blumen in allen Farben und Grössen, süß und prächtig, herrlich und himmlisch leicht.

Dazu mag man im Herzen des Duftes genauso wie im Herzen Bogotás holzige Noten wahrnehmen. In Bogotá gibt es ein ganzes Viertel, wo Schreinerei an Schreinerei folgt. Diesen holzigen Geruch nehme ich ganz subtil auch im Black Orchid wahr. Jedoch bleiben wir nicht in diesem Viertel, sondern ziehen weiter.

Inzwischen ist es Nacht geworden und in der Zona T, der Vergnügungsmeile Bogotás, kommen wir zur Basis und dem Ausgangspunkt unseres imaginären Rundgangs durch Kolumbiens Hauptstadt. Hier mischen uns hippe Bartender opulente Drinks mit Vanille und Tonkabohne. Die vornehmen Herren Bogotás Oberschicht tragen Patchouli und andere holzige Aftershaves, während ihre Damen balsamische und weihrauchlastige Edel-Parfums bevorzugen.
Die Nacht ist noch jung und gefeiert wird bis in die Morgenstunden. Im Andrés, dort, wo man in einer Nacht so viel Kohle liegen lassen kann, wie ein Familienvater mit Durchschnittslohn in drei Monaten verdient. Dort, wo man die High Society Kolumbiens trifft. Dort, wo ich die Stadt am meisten hasse und liebe.

Black Orchid ist für mich der Duft Bogotás.

Ich liebe Bogotá, der Ort, an dem ich lebte, aufwuchs, gross wurde. Bogotá ist für mich Heimat, die Wahlheimat meiner Mama, der Ort, der mir jeden Abend Gänsehaut verleiht, wenn ich sehe, wie die Sonne, die sich gegen Spätnachmittag zeigt, langsam über der Stadt, da hinten, bei den Anden untergeht. Bogotá ist für mich das Gefühl von Anziehung, die Anziehung hin zur goldenen Stadt, “El Dorado”, wie berechtigterweise der internationale Flughafen Bogotás heisst.
Das ist auch Black Orchid für mich. Ein Stück Heimat, Gänsehaut, Anziehung, Gold.

Aber ich hasse Bogotá, der Ort, an dem ich mitansah, wie die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter aufgeht. Bogotá ist für mich Dekadenz, die mir schier unerträglich scheint, wenn ich erlebe, wie die Oberschicht im Andrés zuerst diniert und anschliessend feiert und dabei Geld keine Rolle zu spielen scheint - und die Hausärztin meiner Mama so viel verdient, wie andere dort an einem Abend ausgeben. Bogotá ist für mich ausladend, wenn ich mir vorstelle, wie das Viertel, in dem ich lebte, von der Security bewacht wird und unser Haus mit Stacheldraht umzäunt ist. Ausladend - und abschreckend. Bogotá ist für mich harsch wegen des Wetters, des schrecklichen Verkehrs, des ständigen Staus und des disfuktionalen öffentlichen Verkehrs.
Das ist auch Black Orchid für mich. Dekadenz im Flakon, manchmal schier unerträglich, ausladend und harsch.

Und doch liebe ich Bogotá, der Ort, der Sehnsucht in mir auslöst, wenn ich nicht dort sein kann. Der Ort, der mich jedesmal zu Tränen rührt, wenn der Flieger beschleunigt und abhebt und die Lichter und Straßen Bogotás unter mir immer kleiner und bedeutungsloser werden. Der Ort, der in mir Melancholie verursacht, weil ich Kolumbien und meine Mama dort so sehr vermisse. Und der Ort, der in mir Glücksgefühle und Heiterkeit auslöst, wenn ich in El Dorado aus dem Flieger steige und über die Ansagen im Flughafen ertönt „Bienvenidos al aeropuerto internacional de El Dorado de Bogotá”.
Das ist auch Black Orchid für mich. Sehnsucht, Rührung, Melancholie, Glücksgefühle und Heiterkeit.

Und jedes einzelne Mal, wenn ich in Bogotá lande, wartet dort meine Mama, nimmt mich in die Arme und ich halte sie fest, auch mit 33 Jahren noch. Dann sagt sie “Bienvenido a casa, willkommen daheim” und ich fühle vollkommene Zufriedenheit und Geborgenheit.
Und auch das ist Black Orchid für mich. Wie eine liebevolle Umarmung, das Gefühl von Zufriedenheit und Geborgenheit.

Nur eines wird Black Orchid nie sein.
Ein Ersatz für meine endlose Hass-Liebe zu Bogotá.
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