Tsar 1989 Eau de Toilette

FvSpee
12.12.2022 - 07:14 Uhr
33
Top Rezension
6
Flakon
8
Sillage
7
Haltbarkeit
9
Duft

Der Letzte Bulle

Tsar ist ein grün-kräuteriger kernig-seifiger, wenn nicht gar kernseifiger, maximal männlicher Frischeduft, der jedoch durch achtzigerjahre-üppiges Blumenbeiwerk und eine schmatzend-satte, fast schon ins süßliche drehende Basisnote komplex (und gekonnt) aufgepimpt wurde. Damit steht er nicht als triviale Irisch-Moos-Variation auf der verregneten Schafsweide, sondern stellt ein, wenngleich spürbar zeitgebundenes, eigenständiges Gesamtkunstwerk vor.

Zuerst knallt Tsar dir eine kristalline, brutale Frischenote, die von zitrisch, grün, würzig (und ein bisschen aquatisch) jeweils die kältesten, härtesten Töne versammelt, in die Fresse. Sozusagen eine Ladung klirrendes Eis im Hochsommer. Dafür würde ich die Noten Artemisia, Neroli, Bergamotte, Neroli und, schon aus der Herznote, Kiefer, Pfeffer und unbedingt, unbedingt den sehr massiven, knarzigen Schuss Wacholder verantwortlich machen.

Aber schon nach fünf Minuten sortiert sich das Ding neu und wird weicher, sanfter, geschmeidiger und ein bisschen zeittypisch brustpelzig, ohne allerdings (das passiert auch bis zum Schluss nicht) die Kräuterfrische des Anfangs je zu verlieren. Man spürt jetzt deutlicher die fougèrigen Noten von Eichenmoos (oder wodurch auch immer es substituiert wurde). Und, aber das gelingt mir erst jetzt nach fünf Jahren Test- und Riecherfahrung, einen wunderbar subtilen, feingesponnenen Tanz von pudrigem Lavendel und herbem Estragon. Ich habe diese Kombination im sehr viel asketischeren, minimalistischeren schottischen Duft "1445" erstmals kennen- und liebengelernt. Hier finde ich sie, eingepackt in eine üppige Vielfalt anderer Noten, wieder.

Auch florale Noten treten nun hinzu, allerdings bei weitem nicht so promiment, wie es deren Vielzahl in der Pyramide vermuten lässt. Rose und Rosengeranie nehme ich kaum bis gar nicht wahr, höchstens als generischen Schwere- und Tiefespender. Dass mir der Duft menschlich und freundlich erscheint, dass ich ihn recht gern und oft trage, mag (neben dem diskret dosierten Jasmin) am Maiglöckchen liegen, der Signaturblume von Frau von Spee, die ich nicht nur an ihr, sonder auch in meinen eigenen Düften gerne rieche.

Die nicht endlos, aber doch lange persistierende Basisnote ist zwar nicht hochoriginell (von der Kokosnuss vielleicht abgesehen), bietet aber in sauberer Komposition alles, was eine vollbärtige Männerkuschelbasis erheischt, von diversen Hölzern über Leder und Moschus bis zu Tonka und Patch für die süßen Züge.

* * *

Für einen Fehlgriff halte ich die Namensgebung. Der Duft heißt Tsar, neben Czar eine der beiden im Englischen üblichen Umschriften des Begriffs für den ehemaligen Monarchen von Russland. Der Duft evoziert bei mir jedoch weder Aristokratisch-Höfisches noch Östlich-Russisches; vielleicht von einer ganz kleinen Nähe zu imaginierten sibirischen Kiefernwäldern abgesehen. In denen hielten sich die Zaren ja aber eher selten auf (eher schon die von ihnen Verbannten), und außerdem wuchsen da Maiglöckchen auch wohl nicht ubiquitär und Tonkabohnen eher gar nicht. Ich bewerte die Titulatur daher als Einfallslosigkeit, in der dem Duft ein Etikett angehängt wurde, das halt bei Düften irgendwie immer geht: Kaiser, Könige, Prinzessinnen und Komtessen sell. Das Phänomen, dass Düfte vergleichsweise selten nach Maurern, Bäckerinnen, Friseuren, Architektinnen, Mechatronikern oder Hotelfachangestellten* benannt sind, aber inflatorisch nach Kaiserinnen und Grafen, ist hier ja schon von anderen beschrieben worden.

Ich hätte den Duft aus Gründen, die nach der Lektüre des ersten Teils der Rezension klar sein dürften, vielleicht am ehesten nach Mick Brisgau, dem "Letzten Bullen" aus der gleichnamigen, und von mir goutierten, Fernsehkrimiserie benannt.

* dicke Elektriker kommen allerdings vor

* * *

Gekauft habe ich mir den Duft vor etwa 4 Jahren als Restposten bei TKMax, 50 ml für vielleicht 19 oder 29,99 Euro. Er ist noch halb voll. Wegminimalisieren werde ich ihn nicht. Er gehört zwar nicht zu meinen Lieblingsdüften, aber ich mag ihn gerne und kann ihn (wenngleich eher im Sommer als im Winter) bei nahezu jeder Laune, zu jedem Wetter und jedem Anlass tragen. Und er hat sich als gute Wertanlage erwiesen. Nach der Einstellung der Produktion werden im Internet teils aberwitzige Preise für ihn aufgerufen, was dafür spricht, dass es einige echte Liebhaber:innen gibt, die vom Produktionsstopp kalt erwischt wurden.
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