Ich sprühe und - schwupp - es taucht eine runde Blechdose auf, ein Schrank, ein Zimmer - das Wohnzimmer von Familie S..
Wieso das? Da fällt mir etwas ein, an das ich jahrelang nicht mehr gedacht hatte: in der Dose war immer, ja wirklich immer, eine Packung Jaffa Cake. Innen Orangengelee, außen etwas weicher Biskuit und auf der anderen Seite Schokolade. Hatte man die Dose leergegessen - schon am nächsten Tag war sie wieder voll. Gefüllt von Zauberhand, gefüllt von Frau S.' Zauberhand.
Familie S. wohnte in Fußwegentfernung von der Schule. Nur knapp vier Minuten brauchte man vom Klassenzimmer bis zur Wohnungstür. Mein Schulkamerad, der Sohn von Familie S., und ich liefen in Freistunden zu ihm nach Hause. Dort warfen wir uns aufs gemütliche Ledersofa, hörten fast eine ganze Stunde seine neueste Musik, genossen, dass wir in der leeren Wohnung unsere Ruhe hatten, und aßen die Dose Jaffa Cake leer. Zeitweise, als unser Stundenplan vor Freistunden strotzte, konsumierten wir fast täglich eine solche Packung. Ich weiß noch, dass mein Schulkamerad witzelte, seine Eltern seien ein wenig seltsam, es gäbe nie einen anderen Keks im Haus. Mir war das aber durchaus recht. Auch wenn Jaffa Cake eigentlich nicht meine Lieblingskekssorte war, aß ich sie gern. So wurden sie still und heimlich Teil unseres entspannenden Freistundenrituals.
Nun also hatte ich gesprüht und die Jaffa Cakes, an die ich jahrelang nicht mehr gedacht und die ich auch selbst nie gekauft hatte, waren plötzlich wieder da. Auch Familie S. war wieder da, wobei ich Frau S. nur wenige Male gesehen hatte, denn zu anderen Zeitpunkten als Freistunden, trafen wir uns eher woanders. Herrn S. hatte ich sogar nur ein einziges Mal zu Gesicht bekommen. Mit Ausnahme meines Schulkameraden kannte ich die Wohnung von Familie S. besser als ihre Bewohner.
Was war eigentlich danach gewesen? Danach waren wir immer wieder zur Schule gegangen. Vier Minuten zurück - und starteten nach unserer Auszeit in den zweiten Teil des Schultages.
Und der Duft? Was kommt bei dem Duft nach den Jaffa Cakes? Der Duft geht noch weit über einen Restschultag hinaus.
Während wir im Klassenzimmer saßen und nur noch den typischen Geruch von Klassenräumen und die Ausdünstungen pubertierender Jugendlicher rochen, hat Torino noch die große, weite Welt zu bieten:
Wundervoll harzige Würze edelster Art, ein wenig Rauch, etwas Vanille füllen viele, viele intensive weitere Stunden, auf Kleidung sogar Tage. Und alles scheint perfekt: Der Rauch ist würzig und milde, ohne jeglichen Anklang an Verkohltes; die Harze muten weich an und wurden offensichtlich behutsam gewonnen, so dass sie noch die Pflanzen, aus denen sie entstanden, erahnen lassen; Pflanzen am Mittelmeer, Pflanzen in freier Natur stelle ich mir vor. Die Vanille, in Südamerika heimisch, wurde dezent eingesetzt und unterstützt mit ihrer transparenten Freundlichkeit die wohltuend harmonische Dufterfahrung. Die Orangen sind fast verschwunden, sie steuern aus dem Hintergrund nur noch eine mild-fruchtige Säure bei, die ein wenig Frische vermittelt.
Meines Erachtens ist in Torino viel mehr enthalten als in der Pyramide aufgeführt. Ist da Labdanum dabei? Myrrhe? Ein Hauch von Patchouli oder bilde ich mir das ein? Woher kommt der Rauch? Handelt es sich um Weihrauch? Wenn ja, dann ist es die für mich perfekte Variante, die weder an Gottesdienste erinnert noch stickig oder verkohlt wirkt, sondern leicht und hell. Am Ende hat man den Jaffa-Cake-Auftakt fast vergessen, so viel tiefer und weiter nimmt der Duft einen mit auf die Reise über die Kontinente.
Natürlich, ich weiß ja, ich bin ein Guajakholz-Fan und manches, was ich hier im weiteren Verlauf und auch noch Tage später auf meiner Kleidung wahrnehme, scheint wieder einmal dieser für mich so wohltuenden Zutat zuzuschreiben. Aber ganz gewiss nicht alles.
Ich halte Torino für schwer unterschätzt, auch wenn natürlich nicht alle gleichermaßen in diesem Duft eine Hommage an Jaffa Cakes, meinen Schulfreund, die freundlichen Zauberhände von Frau S., die Freistunden mit bester Musik auf der gemütlichen Ledercouch, Auszeiten, und den Duft der herrlichen, sonnenverwöhnten Flora des Mittelmeeres und Südamerikas sehen können.