Chèvrefeuille 1976 Eau de Toilette Fraîche

Duftsucht
06.04.2021 - 11:05 Uhr
27
Top Rezension
8
Flakon
4
Sillage
4
Haltbarkeit
9
Duft

Die duftenden Schatten der Vergangenheit


Als mich meine damals 70jährige Mutter in Washington D.C besuchte (eine Reise, für die sie tatsächlich extra Englisch lernte und das so gut, dass es für Konversation vollkommen ausreichte!), kam irgendwie die Rede aufs Älterwerden. Der schönste Satz, der damals fiel und den ich nie vergessen werde, kam aus ihrem Mund: „Weißt du Kind, ich denke, nun kann ich ja wohl doch allmählich für mich in Anspruch nehmen, langsam erwachsen zu werden…“ Es liegt also vielleicht einfach in der Familie, dass älter werden auch für mich normalerweise gar kein Thema ist. Aber letzthin durchfuhr mich urplötzlich die Erkenntnis, dass tatsächlich die Hälfte meines Lebens bereits hinter mir liegt. Auslöser dafür war ausgerechnet dieser schlichte Duft.
Chèvrefeuille kaufte ich als Gymnasiastin von meinem nicht sehr üppigen Taschengeld. Die Parfums von Yves Rocher, die damals auf den Markt kamen, habe ich allesamt in eher verklärter Erinnerung, aber dieses eine ist es, das mich beim Abschrauben des Deckels mit einer Vehemenz in die Vergangenheit zurück katapultierte, die fast schmerzte. Denn nicht nur schöne Erinnerungen kommen da zutage, sondern auch einiges, was damals im Tumult der Pubertät schrecklich und nicht wieder gut zu machen erschien: etwa der erste „feste“ Freund, der sich dann als doch nicht so haltbar entpuppte wie gedacht…
Chèvrefeuille war der Duft dieser Sommer, er begleitete als Konstante das Auf und Ab der Gefühle. Ich kann mich noch genau erinnern, dass ich immer, wenn ich den Schüttflakon aufschraubte (ich hatte noch den mit dem nach oben gedrehten Deckel, der auch als Referenzfoto hier auf der Seite ist), zuerst das Fläschchen direkt an die Nase hielt und tief einatmete. Es gibt Parfums, bei denen man das besser nicht macht – außer, man möchte sicherstellen, dass man danach für einige Zeit gar nichts mehr riecht. Bei diesem zarten und präzise gearbeiteten Duft ist es der reinste Genuss! Ich liebe den Duft der Natur: Flieder, Rose, Lavendel, Narzissen, Veilchen – eigentlich wartet alles Blühende meiner unerschütterlichen Überzeugung nach nur darauf, dass ich meine neugierige Nase hineinstecke. Bei Parfums bin ich allerdings meist eher ein Fan komplexer Düfte und habe etwa mit zu deutlichem Flieder - oder Veilchenanteil meist ein Problem.
Das Geißblatt, das in diesem Flakon wohnt, ist eine Ausnahme. Die Spur Zitrus, die besonders zu Beginn für etwas Frische sorgt, nimmt die normalerweise honigartige Süße des Geißblatts zurück und schenkt dem Duft fröhliche Leichtigkeit. Doch eigentlich ist hier der Name Programm: Wundervolles echtes Geißblatt pur vom Beginn bis zum (raschen) Ende. Für mich eher kein Parfum, sondern wirklich ein natürlicher Duft, den ich gerne auch bei großer Hitze trage, wenn viele andere Düfte mich überfordern.

Lange schon ist Chèvrefeuille nun ein Schatten der Vergangenheit – ich hatte das große Glück, hier im Souk noch einmal einen Flakon zu ergattern, der mir diese nostalgische Reise in meine Jugend ermöglichte. Nun da sich der Inhalt des Fläschchens zu Ende neigt, wollte ich ihm doch noch eine kleine Hommage widmen, dem duftenden Freund, dem Seelentröster, dem treuen Begleiter turbulenter Jahre…
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