Magineer
31.03.2020 - 12:37 Uhr
15
Top Rezension
8
Flakon
6
Sillage
6
Haltbarkeit
7
Duft

Ein bisschen mehr Gravitas bitte...

Zuallererst mal ein riesiges Dankeschön an FRAGranTIC, die so wundervoll selbstlos Proben dieses nun wirklich brandneuen Dufts großzügig unter den Parfumos verlost hat und dafür wirklich viel viel mehr Feedback verdient gehabt hätte. Dadurch bin ich zeitnah an diese langerwartete Neuerscheinung gekommen und konnte mir damit selbst ein Bild machen.

YouTuber-Düfte sind ja so ein Ding für sich. Vor allem wohl Jeremy Fragrance hat dieser speziellen Extra-Nische unter den Nischenparfüms mit "Office" und "Date" zum Durchbruch verholfen, und obwohl seine Releases sicherlich Geschmackssache bleiben dürften (und mir zum Beispiel viel zu glattgeleckt mainstreamig geraten sind), hat sein Beispiel Schule gemacht und in Zukunft werden wir uns schon mal auf viele weitere Kreationen bekannter Influencer einrichten müssen. Der britische YouTuber Dan Naughton alias Mr. Smelly ist da keine Ausnahme und hatte im vergangenen Jahr mittels einer Kickstarter-Kampagne recht schnell genügend Geld eingesammelt, um sich der Mitarbeit der echten englischen Klassikernase John Stephen zu versichern - und so entstand mit "Gravitas pour Homme" die erste Duftkollaboration des Hauses Naughton & Wilson.

Nun ist Mr. Smelly natürlich kein Jeremy und könnte von dessen exaltiert-überdrehter Art nicht weiter entfernt sein. Seine unaufgeregten Reviews haben Hand und Fuß, und wer ihn in der Vergangenheit aufmerksam verfolgt hat, dürfte schon gemerkt haben, dass seine Vorliebe dem klassischen Gentleman-Duft des 19. und frühen 20. Jahrhunderts gilt. Und so konnte man von "Gravitas" schon durchaus einen Gegenentwurf sowohl zur angestrengten modernen Duschgel-Aquatik als auch zur derzeit grassierenden Gourmand-Schwemme erwarten. Dementsprechend reiht sich Naughtons Vision auch tatsächlich nahtlos in die in diesem Jahr wieder erstarkte Retro-Welle ein - und wirkt vielleicht dadurch wiederum auf einmal gar nicht mehr so einzigartig.

Man möchte "Gravitas pour Homme" nur das Beste wünschen, nicht nur wegen seiner engagierten Macher. Das fängt bereits bei der Verpackung an: Ein wertiger Flakon, ein schwerer goldener Deckel, ein edles Etikett und ein ehrfurchtgebietendes Wappen geben schon mal klar die Marschrichtung vor und sichern dem Duft sicherlich einen Ehrenplatz im Regal vieler Sammler. Durchaus verdient, und hier löst Mr. Smelly schon mal sein Versprechen ein. Aber letztlich kommt es darauf an, was "Gravitas pour Homme" kann, sobald man das Biest aus der Flasche lässt - und dazu kommen wir jetzt.

Der Auftakt startet vielversprechend, wenn auch nicht sonderlich aufregend für den erwarteten Fougere-Duft: Natürlich bahnen sich Bergamotte und vor allem der Lavendel als erstes ihren Weg ins entzückte Riechorgan, und hier hat Stephen ganz clever getrickst - indem er einer sehr frischen Mandarine (die so gesehen auch eine Limette sein könnte) die Vorfahrt lässt, schafft er eine größere Fallhöhe, weil "Gravitas" unverhofft schnell und frisch startet und dabei fast ein wenig zu schäumen beginnt. Das ist toll, auch ein bisschen anders, und im ersten Moment vor allem auch ungewöhnlich fruchtsüß für ein Gentleman-Wässerchen. Hübsch, aber natürlich hat eine derartige Komposition chemisch bedingt keine allzu lange Haltbarkeit, und deswegen legt sich der zitrische Jubelschrei relativ schnell in Hautnähe schlafen und schickt eine pudrige Wolke als Vertretung, in der hauptsächlich Pfeffer dominiert. Koriander meldet sich zaghaft als Ergänzung, der ebenfalls aufgeführte Kardamom bleibt scheu im Hintergrund. In dieser Phase kann man tatsächlich die unten erwähnte leichte Ähnlichkeit zu "Dior Homme Intense" erahnen, obwohl der Büroklassiker natürlich sein Augenmerk auf einen völlig anderen Verlauf legt. "Gravitas" blendet die Süße schnell aus und bettet sich dann zur Nachtruhe auf ein Lager aus Eichenmoos und einem sehr zarten Patchouli-Hauch, der passend ist für einen Fougere, allerdings auch völlig unspektakulär. Bald schon wird es ruhig auf der Haut. Fast zu ruhig.

Tja. Ich hätte "Gravitas pour Homme" gern bedingungsloser geliebt, weil mir die Richtung, die Mr. Smelly mit seiner Schöpfung hier einschlägt, naturgemäß mehr zusagt als die vieler anderer Versuche der letzten Zeit. Außerdem nötigt allein schon die Präsentation jede Menge Respekt ab, und ich glaube durchaus, dass "Gravitas" auf dem überfüllten Markt eine echte Chance hat. Nur nicht bei mir. Für einen ganzen Flakon reicht mir das, was hier abgeliefert wird, einfach bei weitem nicht. Sicherlich hat das auch mit einer erhöhten Erwartungshaltung zu tun, aber wenn ich Fougere mit einem modernen Twist will, dann greife ich zu Tom Fords weitaus gelungenerem "Beau de Jour", der zwar auch das Rad nicht neu erfindet, aber die echte Würzigkeit dieses Genres sehr viel mutiger bedient, selbst auf die Gefahr hin, als old school verspottet zu werden. Will ich Klassiker, dann stehen da immer noch Houbigant's Ur-Fougere, Penhaligon's "Sartorial" oder sogar Creed's portugiesisches Wäldchen zur engeren Wahl. Allen diesen Düften ist übrigens gemeinsam, dass sie länger halten und stärker projizieren als "Gravitas pour Homme", was umso enttäuschender ist, weil es sich hier tatsächlich um ein Extrait de Parfum handeln soll. Hätte Mr. Smelly das nicht auf den Flakon gedruckt, hätt' ich's nicht geglaubt. So ist es schade um eine tolle Idee und eine gelungene Auftaktüberraschung, die in viel zu kurzer Laufzeit ihre Identität nahezu vollständig verliert. Mag sein, dass es sich hier um das berühmte britische Understatement handelt, aber einen zu mir passenden Duft, eine zweite Haut, möchte ich länger genießen können als nur einen flüchtigen Augenblick. Schade, dass im letzten Moment der Mut gefehlt hat.

Es ist schon eine besondere Ironie: Das, was "Gravitas pour Homme" am dringendsten bräuchte, ist ein bisschen mehr Gravitas. In der Zwischenzeit warte ich weiterhin gespannt auf den zweiten Wurf von Dan Naughton und John Stephen und hoffe, dass das sympathische Duo aus seinen Erfahrungen lernt. Zu wünschen ist es ihnen nach wie vor...
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