L'Odorat - Étude 1.5 2020

Kovex
25.09.2022 - 13:06 Uhr
31
Top Rezension
7
Preis
8
Flakon
7
Sillage
8
Haltbarkeit
9
Duft

Dein Vater

Dein Vater hat viele der Klischees, die einem Schifffahrtskapitän anhängen gänzlich erfüllt. Als du mich vor über 20 Jahren deinen Eltern vorstelltest, saßen wir im Garten, am Rande des Reetdach-gedeckten Hauses, eingerahmt von uralten Buchen und Eichen. Er war wortkarg, der Blick eher grimmig als zugewandt, mehr stiller Beobachter als extrovertierter Unterhalter. Autorität strahlte er aus, seine Weltgewandtheit und Menschenkenntnis wusste er zu verbergen.

Sehen konnte er mich kaum noch. Eine Augenkrankheit die sukzessive zur vollständigen Erblindung führte, hatte ihn kurz zuvor dazu veranlasst, seinen Kapitänsberuf aufzugeben, bevor ein Arzt es per Attest tun würde. Verantwortung war etwas, dass er als jemand der zigtausende Bruttoregistertonnen Waren durch alle Weltmeere lotste, mehr als zu tragen verstand. Aber es war nicht seine Art mit alten Seemannsgeschichten zu prahlen, ebensowenig wie über sein Schicksal zu jammern. Ein aufrechter, ein stiller und ehrenhafter Mann, Dein Vater.

L'Odorat - Étude 1.5 erinnert mich an ihn. Die Möbel seines alten Kapitänszimmers standen im Keller, das Gästezimmer. Schwere Tropenholzmöbel, allerlei holzgeschnitzte Kunstwerke aus aller Herren Länder, Schifffahrtsutensilien, Schlangenhäute und riesige Schildkrötenpanzer. Mitbringsel vergangener Zeiten, als der Zoll so etwas noch durchgehen ließ, als Einfuhrbestimmungen noch auf einen Bierdeckel passten. Im Regal seine alten, ledergebundenen Tagebücher, vom Wetter gegerbt, von unzähligen Einträgen mit Leben gefüllt, von Deines Vaters Leben.

Wann immer ein Duft es mir schwermacht seine Duftnoten zu erkennen oder zu isolieren, weiß ich, dass ich ein Meisterwerk vor mir habe. Gerne vergleiche ich das mit einem klassischen Orchester, wenn vor dem Konzert die Instrumente gestimmt werden. Man nimmt die einzelnen Instrumente wahr, aber ein Hörgenuss ist es sicherlich nicht. Erst wenn die Instrumente vom Dirigenten durch die Komposition geführt werden, wird eine Sinfonie daraus. Erst das Zusammenspiel ergibt die Harmonie und die Instrumente verschmelzen miteinander. Kaum möglich eine Violine von einer Bratsche zu unterscheiden. Es entsteht ein Gesamtkunstwerk, dessen einzelne Protagonisten unabdingbar für das große Ganze sind.

L'Odorat - Étude 1.5 eröffnet mit einem zart ledrigen und leicht harzigen Dufteindruck. Schon zu Beginn will die Duftpyramide mich in die Irre führen, mir einen Verlauf vorgaukeln, der so bzw. nicht in dieser Reihenfolge existiert. Der ledrige Eindruck ist sehr subtil und keineswegs so plakativ wie Tom Fords das in seinem berühmten Lederduft zelebriert. Eher das Aroma einer alten Brieftasche, die zwar noch ledrige Nuancen enthält, aber doch angereicht wurde durch das pralle Leben Ihres Trägers, so wie die alten Tagebücher deines Vaters. Hatte er Alpenveilchen zwischen die Seiten des Buches gelegt? Kräuter zum Trocknen darin für die Ewigkeit aufbewahrt? Das Leder ist aromatisiert aber nur einen Hauch, eine Ahnung von dem was die Natur und die Vergangenheit zu bieten hat.

Keiner würde behaupten, hey tolles Parfüm, was Du trägst, es riecht nach Tinte. Aber doch meint man den handgeschriebenen Tagebüchern Deines Vaters diesen urvertrauten Geruch von Tinte zu entnehmen. L'Odorat - Étude 1.5 rüttelt an den Gitterstäben zu den Toren der verborgenen Kindheitserinnerungen. Ein vertrauter, ein anheimelnder Geruch, der meine Schulzeiterinnerungen mit Deinem Vater in Verbindung treten lässt. Geborgenheit, Sicherheit.

Die Seiten der Tagebücher duften nach Papyrus, sind getrocknet durch die salzige Luft der Meere, angereichert durch die holzigen Noten der schweren Hölzer der Möbel des Kapitänszimmers aus deren Poren die Harze in einem stetigen Strom der Erinnerungen ausdünsten.

L'Odorat - Étude 1.5 ist ein mystischer Duft, subtil in der Ausstrahlung, eigenständig und doch so vertraut. Wärme ausstrahlend, wie die Augen deines Vaters, denen das Licht genommen wurde, die einem aber immer noch das Gefühl geben können, zu Hause zu sein, dazu zu gehören und in sein Herz geschlossen worden zu sein.
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